Tolle oder Tocofrise: Warum Haare nicht nur ein Style-Statement sind
Jan Müller erinnert sich in seiner Kolumne an vergangene Haartransformationen ... und damit verbundene Lebensphasen.
Vielleicht sollte ich es mal mit einer Tolle probieren. Meine Haarfülle würde es mir zumindest gestatten. Außerdem war die Tolle die erste jugendkulturell-rebellische Frisur. Die Frisur der Greaser und der Teddyboys. Bis ins Jahr 1993 experimentierte ich hin und wieder mit Frisuren herum. Im Jahr 1977 fiel mir zum ersten Mal eine Haarpracht als außergewöhnlich auf. Damals klopfte es an der Tür unseres Grundschul-Klassenraums. Ein etwa 12-jähriger Junge in Jeans-Weste mit AC/DC-Backpatch und langen Haaren trat lässig ein und bat seinen kleinen Bruder, meinen Mitschüler Mike, um dessen Wohnungsschlüssel. Er hatte seinen eigenen Schlüssel zu Hause vergessen. Ich besaß keinen eigenen Wohnungsschlüssel. Und Mikes Bruder sah in meinen Augen ziemlich verwegen aus. Ich war beeindruckt und ich sah Mike an, wie sehr er seinen großen Bruder bewunderte.
Im selben Jahr liefen die ersten Punks durch die Straßen meiner Heimatstadt. Manche von ihnen mit leuchtend bunten Haaren. Ich weiß noch genau, wie wundervoll ich sie fand! Sie wirkten lebendig und frei. Ganz anders, als die blasierten Popper, mit ihren Seitenscheiteln, die in meinem Stadtteil Winterhude auch zahlreich anzutreffen waren. Trotzdem war die erste Musik, die mich dann wirklich begeisterte, nicht Punk, sondern der Hardrock von AC/DC. Mein Freund Martin (Frisur: vorne kurz, hinten lang) machte mich mit dieser Band vertraut. Es folgten Kiss, Iron Maiden und Judas Priest. Fast zeitgleich auch etwas NDW und dann Punk, Punk und wieder Punk.
Immerhin kauften Arne Zank und ich uns gebrauchte Bundeswehrstiefel. Das war unser Punk-Statement
Ich war 13 und kam nicht auf die Idee, mir ein komplettes Punk-Outfit zuzulegen. Ich fühlte mich zu jung, um dafür eine Berechtigung zu haben. Vielmehr ging ich weiterhin ganz normal zum Friseur. Es war der City-Friseur in der Hamburger Innenstadt, zu dem meine Eltern mich schickten. Während die Friseurin mir die immer wieder gleiche Frisur schnitt, sprach ich kein Wort mit ihr. Ich war ein schüchternes Kind. Zumindest konnte ich im Anschluss an den Friseurbesuch nebenan Schallplatten im technischen Kaufhaus Brinkmann erwerben und aus dem Augenwinkel auf dem Nachhauseweg die Punks am Mönckebergbrunnen bewundern.
Immerhin kauften Arne Zank und ich uns gebrauchte Bundeswehrstiefel. Das war unser Punk-Statement. Doch von der Hose bis zur Frisur trugen wir ein Normalo-Outfit. Seltsamerweise ließ ich mir dann die Haare irgendwann lang wachsen. Obwohl ich den Film „Haare“, den ich mal im Kino gesehen hatte, unangenehm fand. „Haar! Lass’ es leben / Gott hat’s mir gegeben / Mein Haar!“ Mir war das zu selbstbezogen.
Mein Herz war voller Liebeskummer, mein Gesicht voller Pickel und mit meinem Vater hatte ich jede Menge Ärger
Irgendwann verliebte ich mich. Meine erste Freundin hatte grün gefärbte Haare und ich ließ mir von ihr mein langes Haar abschneiden. Nachdem ich nach kurzer Zeit von ihr verlassen worden war, fing auch ich an, mir die Haare zu färben. Rot, Orange, Türkis, Grün. Alles durcheinander. Ich liebte die bunten Farbtöpfe der Marke Directions, die ich in der Hamburger Marktstraße kaufte. Trotzdem war es eine unglückliche Zeit für mich. Mein Herz war voller Liebeskummer, mein Gesicht voller Pickel und mit meinem Vater hatte ich jede Menge Ärger wegen meines wilden Aussehens und meiner rapide schlechter werdenden Zeugnisse.
Dann brach ein furchtbarer Schicksalsschlag auf unsere Familie herein, die den Streit mit meinem Vater als vollkommen lächerlich entlarvte. Mein Bruder hatte Krebs. Zwei Jahre später starb er. Zur Beerdigung meines Bruders hatte ich eine unauffällige Frisur. Ich weiß nicht mehr, ob ich dafür zum Friseur gegangen bin. In den kommenden Monaten war meine Frisur nur noch eine Nachlässigkeit. Meine Haare wurden wieder länger und verfilzten zum Teil. Vermutlich sah ich aus wie ein Grunger.
Der Haarschnitt symbolisierte meinen Abschied vom Underground und den Beginn von etwas Eigenem
Am ersten Tag meines aus Orientierungslosigkeit begonnenen Studiums traf ich dort jemanden, der eine ähnliche Frisur hatte wie ich. Das war Dirk von Lowtzow. Wir gründeten gemeinsam mit Arne Zank unsere Band Tocotronic. Nach ein paar Wochen ließen Dirk und ich uns die Haare abschneiden. Ich ging dafür übrigens zum teuersten Friseur der Stadt. Ich fand es gut, dass diese Frisur ein wenig aussah wie die Frisuren der Popper aus den 80ern, allerdings ohne eine Popperfrisur zu sein. Außerdem trug zu dieser Zeit wirklich kaum jemand eine solche Frisur. Zumindest nicht in Deutschland. Für mich hatte dieser neue Haarschnitt vermutlich eine wichtige Bedeutung. Er symbolisierte meinen Abschied vom Underground und den Beginn von etwas Eigenem.
Meine Frisur wurde über die Jahre symmetrischer, aber auf eine grundsätzlich neue Frisur habe ich keine Lust. Ich fand es auch immer gut, wenn Popmusiker ihren Look nur unwesentlich verändert haben. Kiss, die Ramones und Mark E. Smith beeindrucken mich. Ich bin zufrieden mit meiner Tocofrise. Ich glaube, ich werde mir doch keine Tolle anfertigen lassen.
Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 9/2025.



