Kolumne

Tocotronic in Sibirien: Eine Erfahrung, die heute nicht möglich wäre

Zehn Tage in einem fremden Land: Jan Müller nimmt uns in seiner Kolumne mit nach Sibirien.

Im Sommer des Jahres 2004 spielte ich auf Einladung des Goethe-Instituts mit meiner Band Tocotronic vier Konzerte in Sibirien und im Ural. Ich war komplett aufgeregt. Die Gelegenheit, aus erster Hand etwas über den sibirischen Punk-Underground erfahren zu können, brachte mich um meinen Schlaf. In der Aerofot-Maschine in Richtung Moskau las ich in einer angeblich liberalen deutschsprachigen russischen Zeitung einen Jubelartikel über Putin. Mit Ural Air ging es weiter nach Jekaterinburg. Bei einer eigentümlichen Stadtführung besichtigten wir Kirchen und Kathedralen, die in der Stalin-Zeit abgerissen worden waren. Wir blickten stattdessen auf irgendwelche Bauten des sozialistischen Klassizismus. Die vielen Trinker in den Straßen boten ein trauriges Bild.

Ein postsowjetisches Klischee und dennoch Realität. Auf dem Weg zu unserer Spielstätte passierten wir die riesige Bauruine eines Fernsehturms. Draußen, irgendwo im Wald, spielten wir in einer heruntergekommenen Techno-Disco. Das Interesse des Publikums an unserer Musik war eng begrenzt. Ich war trotzdem begeistert. Nach ein paar Bier blies meine Band zum Aufbruch. „Ich bleibe noch“, lallte ich den anderen zu, als sie in den Shuttle stiegen. Am nächsten Morgen wachte ich, von Mücken zerstochen und schwer verkatert, auf. Wie ich es schafte, zurück ins Hotel zu kommen, wusste ich nicht mehr. Ich wundere mich noch immer sehr, in jener Nacht nicht komplett verloren gegangen zu sein.

Liebenswerte Feingeister, die betonten, dass sie keinen Alkohol tränken

Wir trafen ein paar Indie-Musiker in ihrem Studio. Liebenswerte Feingeister, die betonten, dass sie keinen Alkohol tränken. Viele der herzlichen Menschen, denen wir auf unserer Reise begegneten, mieden Alkohol, insbesondere Wodka. Am nächsten Tag ging es dann mit dem Flugzeug weiter ins sibirische Novosibirsk. Die Stadt machte, trotz der unzähligen Plattenbauten, einen viel freundlicheren Eindruck als Jekaterinburg. Wir besichtigten das „Akademische Opern und Balletttheater“. Eigentlich sollte hier einst das avantgardistische „Haus der Kultur und Wissenschaft“ entstehen. Doch der Stalinismus beendete diesen Traum. Ein Hauch von Utopie durchweht die Räume dennoch.

Es war mein Geburtstag. Meine Bandkollegen schenkten mir einen Haufen bizarre Kuscheltiere. Das „Nirvana“, in dem unser Konzert stattfand, sah aus wie ein Club in Osnabrück oder Marburg. Am Nachmittag war eine Pressekonferenz angesetzt. Ein älterer Journalist fragte auf Deutsch: „Herr von Lowtzow, wie stehen Sie zur katholischen Kirche?“ Abends war der Saal voller Teenager, die vom ersten Song an jubelten und wie besessen tanzten. Wir fühlten uns wie die Beatles im Jahr 1964. Im Anschluss schrieben wir in etwa drei Stunden Autogramme. Einen Fanbrief, der auf eine Papierserviette notiert wurde, habe ich bis heute aufbewahrt.

Sie klangen gut, leider absolut nicht sibirisch – sondern nach Britpop

Am nächsten Vormittag war ich auf der Suche nach Ansichtskarten. Als ich schon aufgeben wollte, hörte ich meinen Namen: „Jan, Jan, Jan!“ Es war der jüdisch-russische Musikmanager, der am Vorabend unser Konzert besucht hatte. Er hatte einige Zeit in Deutschland gelebt. Ich stieg in seinen riesigen Mercedes ein. Seine Mutter saß auf dem Rücksitz. Er fuhr mich zu einem Geschäft, in dem ich tatsächlich Karten bekam. „Heute Nachmittag probt meine Band; deine Meinung würde mich interessieren“, sagte er, als er mich am Hotel absetzte. Also chauffierte er unseren Mischer Sunny und mich am Nachmittag zum Proberaum seiner Band, der sich in den Katakomben unter dem Rathaus befand. Die Band war sichtlich nervös, ob des internationalen Besuches. Der Manager wies die Band an, einen Song zu spielen. Sie klangen gut. Leider absolut nicht sibirisch, sondern nach Britpop. Nach der Performance fragte uns der Manager: „Wird diese Band, wenn ich eine Million US-Dollar investiere, zu internationalem Erfolg kommen?“ Wir wanden uns in Antworten, dann verabschiedeten wir uns freundlich.

Es ging weiter nach Krasnojarsk. 5 000 Kilometer östlich von Hamburg. Die Stadt sieht aus, als habe die Sowjetunion nie aufgehört, zu existieren. Das Goethe-Institut hat es gut gemeint und uns in den sauberen Club gebucht. Hier herrschte Turnschuh-Verbot. Wir wunderten uns über die Metallstangen auf der Bühne. Das an Tischen sitzende Publikum zeigte wenig Interesse. Nach unserem Auftritt machten sich Stripperinnen bereit. Deshalb also. Wir flohen in den örtlichen Indie-Club.

Am nächsten Tag bestritten wir die Zugfahrt nach Omsk. 20 Stunden Wald. Was für eine verrückte deutsche Idee, dieses riesige Land einnehmen zu wollen. In Omsk dann auch wieder Stripperinnen nach unserer Show. Allerdings auch ein freundliches Publikum und viele Autogrammwünsche. Zehn Tage in einem fremden Land. Ich bin dankbar für diese Erfahrung, die heute nicht mehr möglich wäre. Ich frage mich so sehr, wie es den Leuten, denen wir damals begegnet sind, wohl heute ergeht. Werden sie drangsaliert? Sind sie exiliert? Haben sie sich mit der Diktatur arrangiert, oder – und das ist die fürchterlichste Vorstellung – ist ihr Geist Opfer der Propagandamaschinerie geworden? Ich wünsche ihnen nur das Beste!

Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 8/2025.