Interview

This Is Hardcore: Pulp im Interview

Jarvis Rocker und Band über die Anfänge, die Gemeinschaft & die Lebendigkeit in der Gruppe, über Problem-Verdoppelung, Natur und L.O.V.E.

Fast ein Vierteljahrhundert ist seit WE LOVE LIFE vergangen, dem letzten, 2001 kaum beachteten Album der Britpop-Pioniere Pulp. Nach in alle möglichen Richtungen verlaufenden Solopfaden und zwei nostalgischen Reunion-Touren scheint Mastermind Jarvis Cocker nun endgültig zu der Band zurückgekehrt zu sein, die ihn zu einer Ikone der 90er gemacht hat. Ihr Comeback-Album MORE ist nicht weniger als ein neues Meisterwerk. Wir trafen die Gruppe zum großen ME-Interview.

Bevor man Jarvis Cocker trifft, stellt man sich vor, dass der Musiker vermutlich Tweedsakko, Cordhose und Hornbrille tragen wird. Dann geht die Tür zu einer Hotelsuite in Hamburg St. Pauli auf, und es ist genau so: Cocker, 61, empfängt in Tweedsakko, brauner Cordhose zu grünem Hemd und mit Hornbrille, außerdem trägt er Paraboots, Modell Michael. Es ist seine Uniform, selbstverständlich sieht Cocker immer noch aus wie eine leicht linkische Mischung aus Erdkundelehrer und Literaturdozent. Auch mit Anfang 60 gelingt ihm allerdings das unglaubliche Kunststück, in dieser Nerd-Aufmachung alienhaft, mysteriös, eben wie der Popstar zu wirken, der er ist. Cocker genießt den Vorteil aller Frühvergreisten: Dieser ewige Junge im Körper eines Mannes scheint heute vollkommen alterslos zu sein. Bei ihm ist Candida Doyle, Pulp-Keyboarderin seit 1984, denn das schier Unvorstellbare ist tatsächlich geschehen: Konzerte hatte die Band seit 2023 wieder gegeben, nun gibt es mit MORE zum ersten Mal seit 23 Jahren wieder ein neues Album der britischen ja-was-denn-eigentlich-Band. Die größten Erfolge feierte Pulp im Britpop der Neunzigerjahre, aber da gab es sie schon beinahe 20 Jahre, weswegen Pulp in dieser Szene immer eine Außenseiterrolle hatte. Insofern spielt diese Band gefühlt in ihrem eigenen Universum. Seit damals dominiert Cocker die öffentliche Wahrnehmung von Pulp. Abgesehen von Fans und Experten dürften die meisten Leute kaum ein weiteres Mitglied beim Namen nennen können. Dabei sind die wiedervereinten Pulp mehr denn je eine Band. Um den festen Kern aus dem Gitarristen Mark Webber, dem Schlagzeuger Nick Banks, Candida Doyle sowie Cocker selbst haben sich fünf weitere, überwiegend jüngere Musiker:innen gruppiert, was dazu führt, dass man auf den aktuellen Bandfotos schnell den Überblick verlieren kann. Die Mitwirkung von Doyle stand in den Sternen. Noch vor wenigen Jahren hatte Cocker in Interviews erzählt, sie könne nicht mehr richtig spielen, weswegen eine Pulp-Reunion unwahrscheinlich sei. Seit dem Teenageralter leidet die Keyboarderin an einer schweren rheumatoiden Arthritis. Damals war ihr prognostiziert worden, spätestens mit 30 im Rollstuhl zu sitzen. Doch die ebenfalls 61-Jährige war sowohl bei den ersten Comeback-Konzerten 2011 dabei wie auch jetzt bei der eigentlichen Reunion. Da sie komplexe Läufe auf der Bühne tatsächlich nicht mehr spielen kann – die Gelenke – bedient Doyle ihr Keyboard heutzutage, indem sie diese Passagen vorab samplet und dann mit einzelnen Tasten abruft. Doyle sagt nicht viel, ist aber überaus witzig. Ihre Interaktionen mit Cocker empfehlen sich für ein Videoformat. Nähern wir uns also dem neben Oasis unfassbarsten Comeback des Jahres.

Wie fühlt es sich an, mit 15 eine Band gegründet und 45 Jahre später nach ewiger Pause ein neues Album mit ihr aufgenommen zu haben?

JARVIS COCKER: In einer Band zu sein und Musik zu machen, fühlt sich für mich wahnsinnig lebendig an. Man verdient seinen Lebensunterhalt mit Dingen, die man erfindet. Man geht in einen Raum, erzeugt Geräusche, und wenn man Glück hat, gibt es zwei Stunden später einen Song. Ein künstlerisches Werk, das man selbst in die Welt gesetzt hat. Es ist Magie.

Aber warum gab es dann so lange keine neue Musik von Pulp?

COCKER: Weil es nicht immer so war wie jetzt. Damals saß uns die Plattenfirma im Nacken: „Wo ist das nächste Album?“ Diesmal gab es einen künstlerischen Grund, ein Album zu machen. Wir mussten nichts erzwingen, alles hat sich ganz natürlich angefühlt.

Den neuen Plattenvertrag habt ihr erst unterschrieben, als die Songs schon fertig waren?

COCKER: Es war gut und richtig, es auf diese Weise zu machen. Wir wurden nicht unter Vertrag genommen, sondern es war unsere Entscheidung. Das ist ein Unterschied.

Candida, Jarvis und du habt euch als Teenager kennengelernt. Damals war dein Bruder Magnus in der Band, richtig?

CANDIDA DOYLE: Genau, er war der Schlagzeuger. Zum ersten Mal habe ich Pulp im Royal Pub in Sheffield gesehen, das muss 1980 gewesen sein. Ich wusste damals schon, wer Jarvis ist, weil wir immer in dieselben Clubs gegangen sind. Beim vierten oder fünften Konzert bin ich dann irgendwie dazugekommen.

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Wie erinnert ihr euch an diese Phase, wie wart ihr als Teenager, was hattet ihr für Träume, Hoffnungen?

DOYLE: Ich war eine echte Tagträumerin und habe mich kaum mit der Realität beschäftigt. Natürlich habe ich gelebt und alles gemacht, was man so tut. Ich habe gegessen, geschlafen, bin ausgegangen, vor allem das. Aber ich habe nicht groß über diese Dinge nachgedacht.

COCKER: Bei mir war es das genaue Gegenteil, ich habe permanent über alles nachgedacht.

DOYLE: Wirklich?

COCKER: Viel zu viel!

DOYLE: Das war bei mir überhaupt nicht so. Ich war jung und sorglos. Man ging aus, tanzte, trank, traf sich mit jemanden … Geld spielte keine Rolle, ich habe mir meine Klamotten für ein paar Penny auf Flohmärkten oder in Kleiderklammern besorgt. Ich bin froh, dass es so war. Heute kommen mir viele Menschen ziemlich materialistisch vor. Besitz hat mich in meiner Jugend überhaupt nicht interessiert. Zum ersten Mal habe ich mit dreißig eigenes Geld verdient, ich bin sehr froh, dass ich zuvor so lange Zeit ein so sorgloses Leben führen konnte.

Wie ging es dann los?

COCKER: War das erste Konzert, das wir zusammen gespielt haben, nicht diese Show, die zunächst abgesagt wurde und in der wir dann „The Jolly Pinder Of Wakefield“ rezitiert haben?

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Das berühmte Folk-Lied über Robin Hood?

DOYLE: Genau, aber unser erstes gemeinsames Konzert war das danach, Jarvis.

COCKER: Okay, aber was ist dann mit der „Pinder Of Wakefield“-Show, die nach dem Tumult dieser Rugbyfans abgebrochen werden musste?

DOYLE: Da war ich noch nicht dabei.

Was war da los?

COCKER: Wir sollten ein Konzert in der ­Brunel University in London spielen. Damals hatten wir unser erstes Album veröffentlicht und absolut nichts war passiert. Ich ging fest davon aus, dass die Band damit am Ende war. Wir hatten keine Shows, niemand hat sich für das Album interessiert, ich hatte einen Studienplatz in Liverpool, den ich antreten wollte. Es schien vorbei zu sein, bevor es richtig angefangen hatte. Dann kam unser früherer Gitarrist und Freund Russell von der Uni zurück nach Sheffield. Er schlug vor: „Lasst uns eine gemeinsame Probe machen und sehen, was passiert.“ Also haben wir mit Magnus und ihm geprobt, es war toll, ich habe beschlossen, mein Studium doch nicht anzutreten.

Aber was ist jetzt mit der Rugby-Geschichte?

COCKER: Die kommt jetzt: Wir haben also ein neues Line-up zusammen, es geht weiter mit der Band, alles ist wahnsinnig aufregend. In dieser Situation hat uns jemand diesen Auftritt an der Brunel Universität angeboten, der aber direkt danach wieder abgesagt wurde. Also entwickelten wir den grandiosen Plan, trotzdem da aufzutauchen und so zu tun, als hätte uns die Absage nicht mehr erreicht. Wir fahren also zu diesem Ort und seltsamerweise hatte die Band, die an unserer Statt spielen sollte, ihrerseits beschlossen, nicht aufzutreten.

Was für eine Band war das?

COCKER: Eine Rugby-Band, kennt ihr so was in Deutschland?

Ich jedenfalls nicht.

COCKER: Das sind Bands, die sich auf Songs spezialisiert haben, die im Rugby-Kontext populär sind, die bei den Spielen auftreten und ziemlich aggressive, vulgäre Musik spielen. Demzufolge bestand das Publikum ausschließlich aus grölenden Rugby-Fans. Wir stehen also auf der Bühne, unser damaliger Keyboarder Tim Allcard rezitiert „The Jolly Pinder Of Wakefield“ und diese Rugby-Typen haben uns einfach vom ersten Augenblick an gehasst. Beim vierten Song zog einer von ihnen seine Hose runter, danach stürmten alle gemeinsam die Bühne. Wir sind in die Garderobe geflüchtet und haben die Tür mit einem Kühlschrank blockiert.

Was für ein Horror!

COCKER: Im Gegenteil, wir fanden das super. Wir dachten, jetzt haben wir es geschafft, das ist es. Wir fühlten uns wie Rebellen. Danach nannten wir uns eine Weile The Rebels of 84.

DOYLE: Genau, und das nächste Konzert war dann das erste mit mir. Ich hatte vorher eine Heidenangst, weil ich dachte, der Vorfall könnte sich wiederholen. Stattdessen war einfach gar keiner da.

COCKER: Stimmt, beim nächsten Konzert waren vielleicht zehn Leute. So viel zu den Rebels of 84.

So richtig los ging es erst zehn Jahre später: Mit dem vierten Album HIS ’N’ HERS habt ihr 1994 die britischen Charts erreicht, Platz 9 immerhin. War es ein Vorteil, dass ihr schon so lange dabei wart, als mit DIFFERENT CLASS dann der ganz große Durchbruch kam?

COCKER: Das habe ich immer gedacht. Dieses Gefühl, plötzlich berühmt zu sein, war wahnsinnig berauschend. Ich war fest davon überzeugt, dass mich das mit 18 oder 19 wirklich fertiggemacht hätte. Insofern waren wir froh, bereits ein Leben geführt zu haben. Wir waren Anfang 30 und dachten, wir stünden mit beiden Füßen fest auf dem Boden.

Aber so war es nicht?

COCKER: Nein. Ich fand es trotzdem wahnsinnig schwierig, mit dem Erfolg umzugehen. Mein Alter hat mir nicht dabei geholfen. Ich war aber damals auch noch ziemlich unreif. Dieses ganz Popstar-Ding entsprang bei mir einer Kinderfantasie. Seit meinem siebten Lebensjahr hatte ich mich da hineinfantasiert, was im Grunde auch nichts anderes war als andere Kinderwünsche, wie etwa fliegen zu können. Es hatte nichts mit der Realität zu tun. Meine Erwartungen an ein Dasein als Popstar und dessen Auswirkungen auf mein Leben waren vollkommen unrealistisch.

Du hast dann zu viele Drogen genommen, hattest psychische Probleme, wirktest unausgeglichen, was war los?

COCKER: Ich glaube, ich war einfach wahnsinnig verärgert, weil sich all diese kindlichen Erwartungen, die ich schon so lange hatte, nicht eins zu eins erfüllt haben. In der Realität war alles viel profaner, weniger aufregend, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich ging zudem davon aus, wenn ich einmal erfolgreich sei, würde das automatisch all meine Probleme lösen.

Meistens ist eher das Gegenteil der Fall, die Probleme potenzieren sich.

COCKER: So ist es. Ich musste auf die harte Tour lernen, dass man sich seinen Problemen stellen und sie selbst angehen muss. Man bleibt immer dieselbe Person, nichts, was man erreicht, kann daran irgendetwas ändern. Äußere Einflüsse haben jedenfalls nichts an meinen alptraumhaften Charaktereigenschaften geändert.

Die Neunzigerjahre, das sogenannte Cool Britannia, der Hedonismus dieser Zeit scheinen aus heutiger Sicht eine Milliarde Jahre weit entfernt zu sein. Wie blickt ihr heute auf diese Phase?

DOYLE: Nachdem wir einen Plattenvertrag mit Island unterschrieben hatten und ein regelmäßiges Gehalt bekamen, hatten wir eine wahnsinnig schöne Zeit. Von 1993 bis Mitte 1996 wurde alles immer aufregender. Wir haben aber auch hart gearbeitet, es gab in meiner Erinnerung keinen einzigen freien Tag. Immer hatten wir noch eine Fotosession, mussten wir CDs in irgendeinem Plattenladen signieren oder ein Video drehen. Wir haben uns da kopfüber hineingestürzt, es war klasse. Und dann, ausgerechnet in Deutschland, hatte ich 1996 inmitten einer Tour plötzlich diese gewaltige Panikattacke und musste eine Pause machen. Als wir dann 1998 versuchsweise wieder auf Tour gegangen sind, wurde alles immer schlimmer. Wir sind es dann etwas langsamer angegangen und haben bewusst einen Monat Pause zwischen zwei Tourblöcken eingeplant. Ich dachte wirklich, ich hätte den Verstand verloren, ist das nicht beängstigend?

COCKER: Absolut.

Euer vorläufig letztes Album nach dieser Phase hieß 2001 WE LOVE LIFE, eine typische Volte des großen Pop-Ironikers Jarvis Cocker?

COCKER: Der Titel war ein bewusster Gegenpol zu unserem vorherigen Album, THIS IS HARDCORE, das insgesamt unser düsterstes ist. Nachdem wir die dunkle Seite des Lebens betont hatten, wollten wir uns der helleren widmen. Ich meine, klar, wir lieben das Leben durchaus, aber in diesem Titel lag sicherlich eine gewisse Ironie.

Dennoch könnte man THIS IS HARDCORE als euer Meisterwerk bezeichnen …

COCKER: Es ist brillant, ich liebe es. Aber mir war gleichzeitig vollkommen klar, dass ich diesen Weg nicht weitergehen möchte, das hätte mich zerstört. Damals hat ein Vogel sein Nest unter ein Fenster meiner Wohnung gebaut, eine Amsel, wenn ich mich recht entsinne. Ich habe Fotos davon gemacht, wie die Küken geschlüpft sind, so kam ich auf die Idee für den Song „The Birds In Your Garden“.

Überhaupt ist WE LOVE LIVE ein naturalistisches Album.

COCKER: Ganz bewusst. Mit der Natur hatte ich nie viel am Hut. Ich komme aus der Großstadt. Meine Großeltern haben mich manchmal mit aufs Land genommen und sind mit mir spazieren gegangen, das war’s auch schon. Also habe ich mit WE LOVE LIFE ganz bewusst versucht, eine Verbindung zur Natur aufzubauen.

Klingt nach einer regelrecht unnatürlichen Annäherung an Natur, findest du nicht?

COCKER: Aus heutiger Sicht schon. Aber es war die einzige Möglichkeit, die ich damals hatte. Deshalb war es für uns wichtig, das neue Album weniger konzeptuell anzugehen. Es ist bei Weitem nicht so durchdacht, im Wesentlichen ist diese Musik einfach passiert. Wir haben eine Ewigkeit an THIS IS HARDCORE und WE LOVE LIFE gearbeitet, das waren wahnsinnig zähe, schmerzhafte Prozesse, die uns vermutlich so viele Jahre davon abgehalten haben, überhaupt noch Alben zu machen. Wir wollten einfach niemals wieder zwei Jahre in einem Studio eingesperrt sein.

Wer Jarvis Cocker irgendwann in den vergangenen 20 Jahren auf eine mögliche Pulp-Reunion angesprochen hat, erntete ein verächtliches Achselzucken. Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Mit keiner seiner vielen Soloaktivitäten war Cocker auch nur ansatzweise so erfolgreich wie mit Pulp. Insofern geht es aktuell – wie so oft – auch ums Geld. „Vor zwei Jahren kam ein Konzertveranstalter auf uns zu und bot uns eine Tournee an“, sagt Cocker. Die Band sei zunächst unsicher gewesen. „Ich hatte ewig nicht über Pulp nachgedacht und konnte mir nicht vorstellen, dass die Leute überhaupt noch wissen, wer wir sind“, kokettiert Cocker. Der Veranstalter habe sie dann aber überreden können und natürlich wurde die Band bei den Konzerten mit glühenden Herzen empfangen. Das Wort „Album“ sei zu dieser Zeit bewusst vermieden worden, ehe es sich auf ganz organische Weise eingeschlichen habe.

Cocker hatte einen Song für das Theaterstück „Light Falls“ geschrieben, das für einige Wochen in einem Theater in Manchester aufgeführt worden war. Während der Recherche für das Stück hatte der Dramatiker Simon Stephens ein Jahr in Nordengland verbracht und ein Skript über eine verstorbene Alkoholikerin geschrieben, die auf die Erde zurückkehrt. Dafür bat er den Nordengländer Jarvis Cocker um einen Song. „Ich hätte mich niemals getraut, einen Song zu schreiben, der ‚The Hymn Of The North‘ heißt‘“, sagt Cocker, „nur als Auftragsarbeit war es denkbar.“ Später zeigte Cocker „The Hymn Of The North“ den anderen bei einem Soundcheck der Pulp-Comeback-Konzerte und die Band spielte den Song spontan als Aufwärmübung. Das war der Auslöser, bald gab es mit „Background Noise“ einen weiteren Song, es ergab sich eine Dynamik.

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„Background Noise“ erinnert mich in seiner dramatischen Emotionalität ein bisschen an THIS IS HARDCORE, woher kam diese Idee?

COCKER: Das ist einer der neueren Songs. Wenn man nicht aufpasst, wird die Liebe schnell zu einem Hintergrundgeräusch. Man sollte nicht den Fehler machen, eine Beziehung als selbstverständlich zu betrachten. Oft merkt man aber ja leider erst, wie wertvoll etwas ist, nachdem man es ruiniert hat.

Es kommt mir überhaupt so vor, dass man MORE als eine Art Konzeptalbum über erwachsene Liebe lesen kann. Würdest du zustimmen?

COCKER: Es ist jedenfalls ein wichtiger Themenstrang des Albums, ja. Es geht immer wieder darum, dass man die Dinge, die einem wertvoll sind, nicht vermasseln sollte.

Wie zum Beispiel die Gemeinschaft in einer Band wie Pulp?

COCKER: Man muss einen Weg finden, sein Interesse an solchen Dingen aufrechtzuerhalten. Dafür muss man sich vielleicht manchmal besonders anstrengen.

Es geht also auch um Entscheidungen, die man trifft – und darum, dass wir vieles letztlich selbst in der Hand haben, ist es nicht so?

COCKER: So könnte man das sagen. „Like the buzzing of a fridge, you only notice when it disappears“, singe ich in „Background Noise“. Dieser Vergleich hat mir gefallen, weil es wirklich so ist: Dieses komische Kühlschrankgeräusch nimmt man immer erst wahr, wenn es plötzlich aufhört. Man denkt: „Huch, da war ja ein Geräusch im Hintergrund.“ An diesem Punkt ist es im Leben aber oft schon zu spät. Auch in „Spike Island“ geht es darum, dass man sich immer weiter in eine Katastrophe hineinsteigert und dann plötzlich denkt: „Stop, das mache ich nicht, ich drehe um und ändere ein paar Sachen.“ Das ist doch zentral im Leben: Wie viel Kontrolle hat man darüber, wie sich die Dinge entwickeln? Das war übrigens eine Frage, Candida …

DOYLE: Ich glaube, wir haben mehr Einfluss, als man denken könnte. An sehr vielen Dingen, die in unserem Leben passieren, haben wir einen gewaltigen Anteil, bewusst oder unbewusst. Man kann natürlich immer anderen Leuten die Schuld geben, das ist bequem. Aber ich denke, wir sind zu einem großen Teil selbst verantwortlich.

Ihr habt das Album eurem verstorbenen Bassisten Steve Mackey gewidmet. Wie ist es ohne ihn?

COCKER: Steves Tod ist nicht der Grund, das wir dieses Album gemacht haben, aber er war definitiv ein Faktor. Wenn jemand stirbt, der einem nahe steht, wird man sich seiner eigenen Sterblichkeit bewusst. Man merkt, dass man nicht ewig Zeit hat zu entscheiden, was man mit seinem Leben noch anfangen will.

Zum Beispiel, nicht wieder 23 Jahre verstreichen zu lassen, bevor man ein neues Album aufnimmt?

COCKER: Ganz genau. Uns wurde klar, dass wir genau jetzt die Chance haben, etwas zu tun. Unser neuer Bassist, Andrew McKinney, tat mir anfangs ein bisschen leid. Ich dachte, dass es für ihn ziemlich hart sein müsste, jemanden zu ersetzen, der verstorben ist. Als wir das erste Mal mit Andrew geprobt haben, war es seltsam, dass Steve nicht im Raum war. Wir konnten uns an keine Probe ohne Steve erinnern, er war in den entscheidenden Jahren einfach immer dabei gewesen. Aber Andrew fügt sich wunderbar ein.

Nachdem Pulp in drei Probephasen alte und neue Ideen ausprobiert hatten, spielten sie das Ergebnis ihrer Managerin Jeanette Lee vor und gingen nach deren Go mit James Ford ins Studio Orbb in East London. Abgesehen vom zweiten Album FREAKS haben Pulp noch nie so schnell ein neues Album aufgenommen wie MORE. „Damals mussten wir aufhören, weil kein Geld mehr da war, jetzt waren wir einfach nur wahnsinnig effizient, was auch an James Ford lag“, sagt Jarvis Cocker. Der langjährige Stammproduzent der Arctic Monkeys ist ein zurückhaltender Typ, der das Rampenlicht scheut. Vielleicht liegt es daran, dass sein Talent weniger euphorisch gepriesen wird als das von Andrew Watt und Jack Antonoff, den beiden anderen prägenden Produzenten der vergangenen Jahre. Zu Unrecht: Was Ford mit Depeche Mode, Blur, Beth Gibbons, den Pet Shop Boys oder jüngeren Bands wie The Last Dinner Party und Fontaines D.C. gelingt, ist bemerkenswert. Instinktiv scheint der Produzent zu spüren, was seine Klienten brauchen, wie er das Maximum aus ihnen herausholen kann. Jarvis Cocker kannte Ford nicht persönlich, aber einige der neuen Pulp-Mitglieder machen gelegentlich Musik mit ihm und stellten den Kontakt her. „Ich fand, dass wir einen Produzenten haben sollten, wenn wir eine Platte machen“, sagt Cocker. „Jemand sollte die Kontrolle haben, ich wollte eine Hierarchie herstellen.“ Der von den großen Studioproduktionen der Jahrtausendwende nachhaltig traumatisierte Cocker hatte regelrecht Panik vor der Arbeit im Studio, es sei dann aber ganz anders gekommen: „Niemals hätte ich mir vorstellen können, dass eine Albumproduktion so entspannt sein kann, 40 Jahre habe für diese Erkenntnis gebraucht.“

Die entspannte Atmosphäre hat sich auf die Songs übertragen. „My Sex“ ist zum Beispiel einerseits sehr lustig, man kann den Song aber auch verstehen als Meditation über eine weniger maskuline Form von Männlichkeit. Worum geht’s?

COCKER: Vor allem um Sex und mein Geschlecht, nehme ich an. Deine Rezeption hat vermutlich damit zu tun, dass meine Einstellung zum Sex von den Frauen geprägt wurde, mit denen ich aufgewachsen bin, von meiner Mutter und ihren Freundinnen. Ich hörte ihnen zu, wenn sie über ihre Erfahrungen sprachen, und das hat meine Vorstellung geprägt, wie Beziehungen funktionieren.

Wie war es, als du diese Eindrücke mit der Realität abgeglichen hast?

COCKER: Erschütternd. Ich erkannte, dass meine Vorstellungen aus einer weiblichen Perspektive kamen. Ich habe immer gedacht, als Mann sei ich automatisch eine Art Feind für Frauen, weil die Freundinnen meiner Mutter die Typen, mit denen sie ausgingen, in ihren Gesprächen regelrecht hingerichtet haben. Darüber bin ich nie so richtig hinweggekommen.

Bist du damals auch jener Tina begegnet, nach der der gleichnamige Song betitelt ist?

COCKER: Tatsächlich, ja. Der Song ist von einer realen Frau inspiriert, in die ich in Sheffield verknallt war, obwohl ich niemals auch nur ein einziges Wort mit ihr gewechselt habe. Stattdessen habe ich über einen längeren Zeitraum von ihr fantasiert und bin ihr immer wieder an seltsamen Orten begegnet. Einmal war ich rodeln. Es hat stark geschneit, ich fuhr mit dem Schlitten einen Berg hinunter, und plötzlich sah ich sie von Weitem auf der Straße. Also habe ich natürlich gedacht, wir seien füreinander bestimmt.

So war es aber nicht?

COCKER: Natürlich nicht. In dem Song geht es im Grunde um einen Loser. Er sieht sich fremde Frauen im Zug an und stellt sich vor, wie es wäre, mit ihnen zusammen zu sein. Die Idee war, dass alle Frauen, die er sieht, in seinem Kopf zu dieser idealisierten Tina werden, das für ihn unerreichbare Mädchen, für das er früher geschwärmt hat.

Du selbst scheinst dieses Stadium überwunden zu haben. Vor einer Weile hast du deine langjährige Freundin Kim Sion geheiratet. Stimmt es, dass der Song „Farmers Market“ von dieser Beziehung handelt?

COCKER: Im Gegensatz zu dem Protagonisten des Songs habe ich meine Frau allerdings nicht auf einem Bauernmarkt kennengelernt. Dennoch ist der Song ein bisschen von ihr inspiriert. Und weil sie das weiß, ist „Farmers Market“ ihr Lieblingssong vom neuen Album. Ich würde sagen, es ist eins der Stücke, die am deutlichsten zeigen, dass es auf MORE eher um Gefühle als um Ideen ging. Es ist wichtig, im Leben Liebe zu erfahren. Im Gegensatz zu dem Typen aus „Tina“ ist Liebe nichts, worüber man großartig nachdenkt, sie passiert einfach – oder eben nicht. Am Ende kommt eine Stelle, in der ich immer wieder singe: „Hey Babe – ain’t it time we started living?“

Was willst du damit sagen?

COCKER: In vollen Zügen kann das Leben nur genießen, wer sich der Liebe öffnet, davon bin ich überzeugt.

Folgerichtig heißt ein anderer, wahrhaft furioser neuer Song „Got To Have Love“.

COCKER: Das ist einer der ältesten Texte auf dem Album. Ich habe ihn 1999 geschrieben, konnte ihn aber damals nicht singen, weil ich gerade eine lange Beziehung beendet hatte. Ich fühlte mich verloren, ich hätte den Song nicht mit Überzeugung singen können. Ich bin wahnsinnig froh, dass das jetzt möglich war.

Der Song scheint ein Dialog zu sein, mit wem spricht der Protagonist?

COCKER: Das kam später dazu, es ist nun ein Gespräch zwischen mir und meinem jüngeren Selbst, dem ich versuche, diese Einsicht in seinen verdammten Dickschädel zu hämmern: „You got to have Love!“ Ich werde darüber regelrecht sauer und frage mein Gegenüber einmal, ob er überhaupt weiß, wie man Liebe buchstabiert. Dann buchstabiere ich es für den kleinen Jarvis: L.O.V.E.

Pulp haben die Liebe entdeckt. Füreinander, zur Musik, zum Leben. Ob sie diese Liebe auch auf deutsche Bühnen tragen werden, steht aktuell noch nicht fest, aber sie steckt in jedem wunderbaren Detail ihres fantastischen Comeback-Albums MORE.