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Brian Wilson & The Beach Boys: Legenden des Pop

Wir wollen noch mal umfänglich Abschied nehmen von einem großen Helden: Brian Wilson. Rest in peace.

Das Leben von Brian Wilson und die Karriere der Beach Boys bilden eine amerikanische Geschichte. Ausgestattet mit Helden und Schurken, Cadillacs und kalifornischen Träumen, von denen sich einige als Albträume entpuppen. Wie würdigt man dieses Genie, das nun mit fast 83 Jahren verstarb? Versuchen wir es mit Mark E. Smith im volltrunkenen Zustand. Und lassen Fox News besser aus dem Spiel.

Wenn es etwas Tröstliches am Tod gibt, dann sind es die gemeinsamen Erinnerungen, die in diesem Moment noch einmal aufleben. Bilder, Begegnungen, Songs. Und im Fall von Brian Wilson vor allem Lieder.

Brian Wilsons Musik als ewiger Soundtrack des Sommers

Der 11. Juni ist der Tag, an dem sich in Deutschland nach viel Wind und Regen der Sommer zurückmeldet. Als am Abend die Nachricht von Wilsons Tod durchsickert, liegen seine Songs wie ein akustischer Schleier über der Stadt. Jemand hört sehr laut „I Get Around“, aus einem anderen Wohnzimmer schleicht sich „The Warmth Of The Sun“ an die milde Luft. Natürlich dürfen „Good Vibrations“ und „Wouldn’t It Be Nice“ nicht fehlen. Und beim genauen Hinhören lassen sich die drei himmlischsten Lieder identifizieren. Die musikalische Erleuchtungsfantasie „Surf’s Up“, mitgeschrieben von Van Dyke Parks. „’Til I Die“, mit der Zeile, die einem in den Sinn kommt, wenn man sich von der Welt überwältigt fühlt, was nun wirklich häufig genug vorkommt in diesen Tagen: „I’m a cork on the ocean“. Und natürlich „God Only Knows“, der himmlischste aller Popsongs, zu finden auf PET SOUNDS, einer der himmlischsten Pop-LPs aller Zeiten.

Selbst die sozialen Medien sind in solchen Momenten ein guter, tröstlicher, verbindender Ort. Die Leute teilen ihre Traurigkeit, kramen ihre Platten hervor, zeigen Autogramme und Fotos. Sie schreiben mal superkurze, mal längere, mal standardisierte, mal sehr persönliche Nachrufe. Einer der schönsten hat mit Brian Wilson nur indirekt zu tun, sagt aber alles über die Wirkkraft seiner Musik aus. Damon Gough a.k.a. Badly Drawn Boy aus Manchester erinnert sich in einem Posting an eine Begebenheit in den Neunzigerjahren. Gough hat diese Anekdote bereits 2020 im „Guardian“ erzählt. Sehr respektvoll übrigens. Was in diesem Fall gar nicht einfach ist.

Mark E. Smith, ein Audi 80 und PET SOUNDS – Popkultur pur

Es ist das Jahr 1997, Gough ist damals Ende 20, und endlich scheint es, als würde seine Karriere als Songwriter Fahrt aufnehmen. Wie ein Popstar sieht Gough nicht aus. Heute nicht. Und damals erst recht nicht. So kommt es, dass ein reichlich betrunkener Mark E. Smith von The Fall vor einem Hotel in Goughs Audi 80 steigt, weil er denkt, bei diesem Kerl mit Fünftagebart handele es sich um einen Taxifahrer. Als Gough ihm sagt, er sei kein Taxifahrer, versucht Smith aus dem Wagen zu steigen, fällt bei diesem Vorhaben beinahe um. Daher trifft Gough die Entscheidung, ihn in diesem Zustand doch zum Zielort zu bringen, das Haus von Smiths Mutter in Stockport. Auf dem Trip lässt Gough übers Kassettendeck PET SOUNDS laufen. „Smith fragte mich: ‚Was ist das, das habe ich noch nie gehört, das ist unglaublich?‘“ Als Gough ihn informierte, fragte Smith weiter: „Kann ich die Kassette haben?“ – Gough erwiderte: „Wenn du einen Song mit mir aufnimmst …“

Gough gibt ihm seine Telefonnummer und das Tape, und Mark E. Smith ruft ihn am nächsten Tag tatsächlich an. Jedoch nicht in erster Linie wegen der Abmachung, sondern weil er neben seiner geliebten Lederjacke auch ein Set falscher Zähne im Audi 80 liegengelassen hat. Gough bringt ihm das Gebiss. Smith hält sich an den Deal und wählt aus den Badly-Drawn-Boy-Songs einen aus, den er für The Fall als passend erachtet. So entsteht der ziemlich gute Song „­Calendar“, zu finden auf der Deluxe-Edition des The-Fall-Albums LEVITATE aus dem Jahr 1997. Ob es tatsächlich sein kann, dass Mark E. Smith damals PET SOUNDS nicht kannte, wird Gough nach seinem Posting gefragt. Nun, postet Gough höflich zurück, Mark E. Smith sei an diesem Abend eben „sehr vergnüglich“ gewesen.

Im Kern ist diese Geschichte ein hochinteressantes Popkultur-Experiment. Es gibt ja die These, der gesamte Pop- und Rock Kanon mit den „Besten Alben aller Zeiten“ sei grundsätzlicher Schmu, vor Dekaden definiert, seitdem mut- und fantasielos von Generation zu Generation weitergetragen. Das Auto von Damon Gough ist an diesem Abend ein Labor. Die Versuchsanordnung: Was, wenn man einem musikaffinen Menschen wie Mark E. Smith im filmrissreifen Zustand das vermeintlich beste Album aller Zeiten vorspielt? Und zwar nicht in Hi-Fi, sondern über das Tapedeck eines Audi 80. Ist ihm die Musik beim Hören egal? Findet er sie mies? Oder will er die Kassette unbedingt haben – und verliert vor lauter Aufregung sein Gebiss? Mark E. Smiths falsche Zähne beweisen: PET SOUNDS ist so gut, wie viele sagen.

„Good Vibrations“: Brian Wilsons Meisterwerk als Pop-Sinfonie

In Tim Burtons Film „Mars Attacks“ bringt Tom Jones’ „It’s Not Unusual“ die Außerirdischen in Partystimmung. Will man die Aliens weinen sehen, sollte man ihnen „God Only Kows“ spielen. Will man wiederum ihren Respekt für das, was die Menschheit als kreative Geister zu schaffen in der Lage sind, wäre „Good Vibrations“ die beste Wahl, die erste Single nach PET SOUNDS, mit einem Text von Mike Love, produziert und komponiert von Brian Wilson. Ein Song, der im Jahr 1966 das gesamte Beach-Boys-Camp an den Rand des Wahnsinns treibt. Und auch ein Stück darüber hinaus.

Sieben Monate dauern die Aufnahmen, in vier Studios wird gearbeitet. Die Kosten laufen der Band und dem Label davon, was Brian Wilson schnuppe ist. Das Lied dauert nur dreieinhalb Minuten, perfekt fürs Radio. Aber in diesen dreieinhalb Minuten passiert sehr, sehr viel. Im Netz gibt es unzählige Essays und Tutorials, die sich intensiv mit der Komposition und der Aufnahme dieses Stücks beschäftigen, und obwohl diese Texte und Videos in der Regel von ausufernder Länge sind, wird standardgemäß behauptet, man müsse diesem Stück eigentlich ein ganzes Proseminar widmen. Wegen der Komplexität der Harmonien. Oder weil Brian Wilson bei der Produktion Verfahren nutzt, die technisch eigentlich erst durch die Digitalisierung möglich werden. Die Copy-Paste-Methode zum Beispiel: Wilson nimmt nicht das gesamte Stück auf, sondern arbeitet mit Modulen, die er immer wieder neu verwendet und manipuliert. So kommt es, dass in verschiedenen Teilen des Songs die gleichen Aufnahmen verwendet werden. Heute ist das gängiges Verfahren. 1966 ist es ein irrer produktionstechnischer Ritt.

Um den Song zu beschreiben, überträgt der Bandsprecher Derek Taylor die Bezeichnung einer „pocket symphony“ von der Klassik- und Broadway-Welt (gemeint sind hier zum Beispiel Mozarts „Eine kleine Nachtmusik“ oder Gershwins „Rhapsody In Blue“) in den Pop. Der Begriff passt deshalb gut, weil „Good Vibrations“ beides vereint: die Komplexität und das Westentaschenformat. Man kann dieses Großwerk locker als 7’’-Single mit sich führen. Der Einfluss von „Good Vibrations“ auf die Popkultur ist gigantisch, wird auf diversen Ebenen erkennbar. Weil Wilson zum Beispiel offensichtlich Dinge hört, die andere nicht hören, gilt es nun erst recht als erstrebenswert, einen ähnlichen Zustand zu erreichen. Mit LSD. Wilsons Idee, das Studio nicht nur als Ort zu sehen, in dem Musiker:innen ihre Instrumente einspielen und singen, sondern als Werkstatt zu begreifen, führt ab 1966 zu einer Reihe revolutionärer Pop-Platten. Wer weiß, ob sich die Beatles und George Martin auch ohne Wilsons Arbeit an die Arbeit zu SGT. PEPPER’S gemacht hätten.

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Kalifornien statt London – Wie die Beach Boys die Popwelt veränderten

Hinzu kommt: „Good Vibrations“ ist mitverantwortlich dafür, dass ab 1966 die Ära der British Invasion ausläuft. Nicht mehr London ist der Nabel der Popwelt. Kalifornien übernimmt – mit Los Angeles und seinem Laurel Canyon sowie San Francisco als den beiden Epizentren, mit den von den Beach Boys postulierten „good vibes“ als Trademark. „Ab 1966 war Kalifornien die Zentrale für die Entwicklung der Popmusik“, sagte Van Dyke Parks, ein Freund und Kreativpartner von Brian Wilson, 2016 im Interview mit dem­ Musikexpress. Man dürfe nicht verkennen, dass die Welt 1966 mies gewesen sei: „Es war die Zeit, als man zur Abendbrotzeit im Fernsehen Aufklärungsfilme für den Fall eines Atombombenabwurfs zeigte. Als Schwarze Amerikaner in Vierteln, in denen die Weißen unter sich bleiben wollten, von den Schäferhunden der Polizei bedroht wurden. Das war die amerikanische Realität.“ Eine Realität, der sich Kalifornien damals nicht beugen will, wie Van Dyke Parks sagt: „Es war ein besserer Ort. Hier galten einige Regeln einfach nicht. Oder besser: Wir taten so, als würden sie nicht gelten. Wir wollten uns von nichts und niemandem stoppen lassen. Das war der Geist von 1966.“ Parallelen zum Geist von 2025 sind erkennbar.

Welche Rolle Brian Wilson bei all diesen Entwicklungen des Jahres 1966 spielt? Van Dyke Parks sagt: „Brian Wilson war ausschließlich damit beschäftigt, Brian Wilson zu sein. Das war Aufgabe genug. Er hatte das Ziel, die Erde zu einem schöneren Ort zu machen.“ Politik sei dagegen nicht sein Thema gewesen, er habe damit auch nicht behelligt werden wollen – nicht umsonst schreibt er für PET SOUNDS ein Stück namens „I Just Wasn’t Made For These Times“.

„Ich wehre mich jedoch gegen das Urteil, Wilson sei 1966 nur noch ein Kindskopf gewesen, der Amphetamine schluckte, Marihuana rauchte und in seinem Sandkasten im Wohnzimmer spielte“, sagt Parks. Dieses Bild habe sich als Klischee in den Köpfen festgesetzt. „Was aber kaum jemand erwähnt, ist der Umstand, dass er diesen Raum mit einem Achtspur-Aufnahmegerät ausgerüstet hatte. Einer großartigen Maschine, mit der es ihm gelang, Popmusik in ganz anderen Dimensionen zu denken.“ Parks glaubt, dass ohne Wilsons technische Innovationen in der Popmusik die Ideale von 1966 schnell verpufft wären. „Vergleichen Sie mal den Sound und die inhaltliche Haltung von ‚Surfin’ U.S.A.‘ mit denen von ‚Good Vibrations‘. Dazwischen liegen zeitlich drei Jahre. Klanglich jedoch Welten.“ Wie er das alles gemacht hat? Bleibt auch für Van Dyke Parks ein Rätsel.

Dass Wilson ein unergründliches Leben führte, zeigt schon die Sache mit dem rechten Ohr. Er ist darauf taub, bemerkt wird das bei einer Chorprobe, als er elf Jahre alt war. So viel steht wohl fest. Wie aber genau es dazu kommt, dazu gibt es viele Erzählungen. Die bekannteste handelt davon, dass sein Dad ihm eine so harte Ohrfeige verpasst hat, dass die Taubheit daher rührt. Dieser Murry Wilson eignet sich sowieso als Hassfigur: Er, der schlagende Vater, der selbst kein Talent besitzt, dafür die Jungs quält, um möglichst viel Geld mit ihnen zu verdienen. Mit den Jahren werden die Erzählungen über Murry Wilson immer milder, und die Sache mit der Ohrfeige ist nur noch eine von mehreren Möglichkeiten, wie es zu Brians Taubheit des rechten Ohres kommt. Weitere Theorien: Der Hörschaden ist angeboren, zeigt sich aber erst später. Auch ein Football, der ihm gegen Ohr geflogen ist, kam in die Verlosung. Dazu eine Schulhofrauferei.

Brian Wilsons Schattenseiten: Krankheit, Stimmen und falsche Freunde

Fakt ist: Brian Wilson hört als Komponist und Sänger nur auf einem Ohr. Was kein Problem ist. Denn die Klänge spielen sich sowieso in seinem Kopf ab. Dieser nicht zu stoppende Hirnsoundtrack ist zugleich der große Fluch und der große Segen seines Lebens. Denn Brian Wilson hört nicht nur Harmonien und Melodien. Sondern auch Stimmen. Engelchen und Teufelchen, „Heroes And Villains“. Ihre Quelle ist ein fatales Zusammenwirken aus psychischen Krankheiten wie einer schizoaffektiven und biopolaren Störung, aus dem Missbrauch von Medikamenten und Drogen, aus dem Durcheinander der Stimmen der vielen Menschen, die behaupten, es gut mit ihm zu meinen. Der Legendärste von allen: Eugene Landy. Auch er, wie Brians Vater, eine Schurkenfigur wie aus einem Hollywoodfilm, der böse Psychiater, ein Seelenscharlatan, der sich des Geldes wegen an das Genie heranwanzt. Jedoch geriet auch dieses Bild mit den Jahren ein wenig ins Wanken. Der Patient selbst hält ihn später zwar für einen „fucked-up man“, aber sein Leben habe Landy dennoch gerettet. Und Beach-Boys-Kollege und Wilson-Cousin Mike Love, wegen seiner pragmatischen Geschäftstüchtigkeit und Prozessfreudigkeit auch Teil des zweischneidigen Personals um Wilson herum, sagt 2004 dem „Mojo“-Magazin über Landy: „Er war der Einzige, der mit Brian umgehen konnte.“

Den Beach Boys selbst gelingt das bereits ab 1967 nicht mehr. Nicht Brians jüngeren Brüdern Dennis (Jahrgang 1944) und Carl (Jahrgang 1946), nicht Love als Cousin, nicht Al Jardine, der Brian Wilson auf der Schule kennenlernt. Bis 1965 besingen sie eine kalifornische Litfaßsäule: Sonne, Mädchen, Surfboards, „Fun, Fun, Fun“. Brian Wilson füttert dieses Ideal, obwohl er weder den Beach noch die Boys mag, die dort für die „California Girls“ posieren. Risse in dieser Scheinwelt gibt es nur in Ansätzen. Zum Beispiel im Song „In My Room“ aus dem Jahr 1963, in dem er erstmals klarstellt, dass er sich lieber in seiner inneren Welt aufhält, weil sie ihm dieses Gefühl von Sicherheit geben kann, das ihm die Außenwelt verweigert.

Von SMILE bis zum Rückzug – die Brüche in der Beach-Boys-Story

Ab 1965 ist er nicht mehr Teil der Live-Besetzung, Bruce Johnston übernimmt seine Parts, es gibt nun zwei Band-Varianten: Wilsons Studioprojekt und die von Mike Love angetriebene Livegruppe. Als Brian Wilson mit Van Dyke Parks als Texter mit der Arbeit am PET-SOUNDS-Nachfolger SMILE beginnt, kommt es zum Streit: Love hält das diese Lieder für überambitionierten Quark und auf der Bühne nicht darstellbar. Zusätzlich gibt es Stress mit der Plattenfirma. Und dann kommen auch noch die Beatles mit SGT. PEPPER’S ums Eck – ein Album, mit dem, befürchtet Brian Wilson, sein Werk nicht mithalten kann. SMILE erscheint daher nicht. Ein Album mit diesem Titel sorgt dafür, dass er bricht. Wilson zieht sich 1967 komplett zurück. Schreibt einen Song, der alles aussagt: „Busy Doin’ Nothin“. Eben noch sind die Beach Boys die Zukunft des Pop. Jetzt gelten sie als Gruppe von gestern. Als nicht „authentisch“ – ein Begriff, der im Pop ab Ende der Sechziger immer wichtiger wird. Die Beach Boys werden weiterhin als „Surfin’ Band“ vermarktet und veröffentlichen Alben, die im Vergleich zur Konkurrenz kreuzbrav klingen. Einige der SMILE-Songs landen 1967 auf dem Ersatz-Album SMILEY SMILE, andere tauchen auf späteren Platten auf, wirken wie wundersame Grüße aus einer Parallelwelt. Brian Wilson ist mal mehr, mal weniger beteiligt. Er wirkt wie der Besucher einer Party, der die besten Gastgeschenke mitbringt, bei dem man aber nie weiß, ob er überhaupt kommt – und in welchem Zustand. Anders als die Beatles lösen sich die Beach Boys nicht auf. Anders als die Rolling Stones funktionieren sie aber auch nicht mehr als Band.

Mit SUNFLOWER (1970) und vor allem SURF’S UP (1971) erhalten die Beach Boys noch einmal Aufwind, der Abgesang auf das eigene Image wird als progressiv wahrgenommen. Danach lebt Brian Wilson für einige Jahre wie ein Einsiedler, kehrt unter Eugene Landys Einfluss 1975 in die Öffentlichkeit zurück und produziert mit 15 BIG ONES ein künstlerisch furchtbares, kommerziell aber erstaunlich erfolgreiches Beach-Boys-Rockalbum. Danach zerschellt die Band erneut. Die Alben der Beach Boys ab den späten Siebzigerjahren klingen wie eine Karikatur der eigenen Geschichte – und tragen dementsprechende Titel: L.A. (LIGHT ALBUM), KEEPIN’ THE SUMMER ALIVE, SUMMER IN PARADISE. Durch die lauwarmen Platten kriecht eine kalkulierte Kälte. Für Brian Wilson wirkt diese Gruppe wie eine weitere Droge: Er kommt nicht von ihr weg.

Comeback, Liebe und späte Meisterwerke – Brian Wilsons letzte Kapitel

Die Rettung erfolgt 1986 bei einem Gebrauchtwarenhändler für Cadillacs. Wo sonst, dies ist schließlich eine amerikanische Geschichte. Brian Wilson ist auf der Suche nach einem solchen Wagen und begegnet Melinda Ledbetter, die beim Händler Cadillacs an die Leute bringt. Erst ist es Zuneigung. Dann Liebe. Sie erkennt den übergriffigen und schädlichen Einfluss von Landy, ist mit dafür verantwortlich, dass er vor Gericht landet und die Verbindung zwischen Landy und seinem kalifornischen Patienten endgültig gekappt wird. Wilson und sie heiraten 1995, und ihr Ehemann findet plötzlich eine Zeit der Ruhe. Kommt zu Kräften. Keinen Moment zu früh.

1995 gibt es eine erneute Zusammenarbeit mit Van Dyke Parks auf ORANGE CRATE ART, 1999 absolviert er die erste Solo-Tour seines Lebens, 2004 traut er sich zu, das gescheiterte Großprojekt SMILE auf die Bühne zu bringen. Das Album selbst erscheint ungefähr in der Form, in der Wilson es 1966 und 1967 im Kopf hat. Auch Interviews sind möglich. Im Frühjahr 2015, sein solides Soloalbum NO PIER PRESSURE steht kurz vor der Veröffentlichung, besteht die Gelegenheit, Wilson in einem Hotel in Berlin zu sprechen. Vor dem Interviewstart geben Leute vom Label und aus Wilsons Umfeld den Ratschlag, man solle sich bitte darauf einstellen, dass Brian kurze Antworten gebe. „Sehr kurze.“ In der Suite sitzt dann ein Mann, der müde wirkt, aber in sich zu ruhen scheint. Der aber wohl auch lieber woanders wäre als in dieser Hotelsuite in Berlin. Seine Frau Melinda sitzt im Nebenzimmer, in Hörweite. Wilsons Antworten sind kurz, aber nicht uninteressant. Die besten Songs schreibe er nach dem Dinner, da ein gutes Essen ihm die Nervosität nehme, denn bei ihm sei es so: „Jede Begegnung mit einer Melodie macht mich so nervös wie ein Date mit einer Frau an der Bar. Man weiß schließlich nie, wie das ausgeht.“ Was im Gespräch klar wird: Über Musik zu reden, funktioniert gut. Auf welchen Song er neidisch ist? „Be My Baby“ von den Ronettes, produziert von Phil Spector: „Pures Glück und Euphorie. Einen solchen Song könnte ich nicht aufnehmen.“ Sein Vorbild als Teenager? „Chuck Berry. Von ihm habe ich gelernt, wie man einen Rock’n’Roll-Song schreibt.“ Eine Frage noch, Mr. Wilson: Was passiert mit einem Song, den sie aufgenommen haben? „Ich verschenke ihn. Jeder meiner Songs ist eine Gabe an die Hörer.“ Danke, Brian.

Brian Wilsons Vermächtnis

PS. Wenn es etwas Untröstlicheres als den Tod selbst gibt, dann der Moment, wenn die Moderatorin Sandra Smith bei Fox News mit breitem Grinsen und ungefragt „Kokomo“ als ihren Lieblingssong von Brian Wilson benennt. Ein Lied, an dem Wilson 1988 nicht die Spur beteiligt ist. Das er, als er es zum ersten Mal hört, gar nicht als Beach-Boys-Stück erkennt. Was auch am Text liegt: „Aruba, Jamaica, ooh, I wanna take ya / Bermuda, Bahama, come on pretty mama.“