So war das Roskilde Festival 2025: Lang lebe der Woke-Wahnsinn!
Das dänische Traditionsfestival ist seit 1971 am Start und spendet sämtliche Gewinne an gemeinnützige Organisationen. Obwohl in Roskilde fast alles politisch ist, funktioniert es zugleich als perfekte Open-Air-Party mit großen Headlinern wie Doechii, Stormzy, Fontaines D.C., Olivia Rodrigo oder Arca. Ein Spagat, den wir uns häufiger wünschen würden – und der viele Vorurteile gegen „gutmenschelnde“ oder „woke“ Veranstaltungen widerlegt.
Es lohnt sich beim Roskilde Festival auch abseits der großen Bühne umherzustreifen. Obwohl sich gut eine halbe Zugstunde von Kopenhagen entfernt alle Jahre wieder rund 130.000 Menschen versammeln, fühlt man sich hier nämlich selten beengt und findet bei einem langen Gang über das riesige Gelände erstaunliche Dinge. So gibt es auf dem Campingplatz zum Beispiel einen inzwischen sehr sauber wirkenden Badesee mit einem schicken neuen Steg.
Utopie, oder wie?
Nur fünf Gehminuten davon entfernt passiert man dann den Saloon und die Feuerwehr der „Dream City“ – ein Areal, auf dem junge Kreative über die Dauer des Festivals eine kleine Stadt errichten und allerhand Kunst präsentieren. Hier findet man zum Beispiel an der Gemeinschaftsküche eine Fotoausstellung des deutschen Festivalfotografen Till Petersen, der seit Jahren zum Roskilde reist. Er hat im vergangenen Jahr ausgewählte Besucher:innen portraitiert und ihnen die Frage gestellt, was für sie an Roskilde so besonders sei.
Eine Antwort passt sehr gut zum betont polemischen Titel dieses Artikels: „Roskilde ist einer dieser Ort, die Utopia am nächsten kommen. Roskilde beweist, das Kulturorte wie dieser der Ursprung einer besseren Gesellschaft sein könnten.“ Das sind natürlich große Worte, aber wer auch nur einmal auf diesem Festival war, spürt, dass da etwas dran sein könnte.
Dabei ist es nicht so, dass hier bekiffte ungewaschene Ü-40-Hippies im Gras liegend über eine bessere Welt salbadern, um sich danach eine halbgute Psych-Rock-Band anzuschauen. Im Gegenteil: Das Publikum ist – obwohl es das Festival seit über 50 Jahren gibt – zum größeren Teil jung und hip, der Vibe manchmal eine Mischung aus Spring Break und Festival.
Es ist auch nicht so, dass man hier alle Nase lang eine politische Meinung reingedrückt bekommt, wenn man das nicht möchte. Die Werbeplakate für eine halbwegs korrekte Mülltrennung kommen hier mit einem ironischen Unterton – und wenn man seinen Scheiß dann doch auf den Boden werfen will, kommt ein paar Stunden später einer der vielen Volunteers und räumt ihn weg. Wer druff und drüber über das Gelände torkelt, wird nicht verärgert angestarrt, sondern eher mit sorgendem Blick beobachtet, ob man vielleicht helfen könne. Vor den Konzerten sieht man dann eine liebevoll gezeichnete Videokampagne, die uns ein paar Vorschläge macht, wie man schlagfertig und augenzwinkernd eine Einladung zum Drogenkonsum ausschlagen könnte.
In einem anderen Teil des Campingplatzes – in dem „Clean Out Loud“-Areal – kann man dann beobachten, wie hier jeden Tag untereinander das sauberste Camp ausgezeichnet wird. Eine perfeke Gelegenheit für ein paar Schnäppse und lauten Festivalquatsch unter Pavillons, die am Ende garantiert nicht stehen gelassen werden. Dass ein paar dieser Gruppen so laut und wild und übermännlich wiken, wie einige Rock-am-Ring-Camps ist dabei eine schöne ironische Note.
Eine Antithese zur angeblichen Verbotskultur
Warum wir das hier so ausführlich erzählen? Weil es eine schöne Antithese ist zu dieser bekloppten Behauptung, alles was von meist konservativen Männern als „woke“ markiert wird, führe zu Verbotskultur, mangelndem Spaß, Cancel-Culture und am Ende vermutlich gar zum Weltuntergang. Das Roskilde – das natürlich längst nicht perfekt ist und auch eine Veranstaltung bleibt für Leute, die sich das Ticket und die Drinks dort leisten könnten – beweist seit Jahren ganz nonchalant das Gegenteil. Es setzt auf eine gemeinnützige Organisation und Volunteers, die oft von lokalen Sportvereinen oder politischen Gruppen kommen (und dort an den vier Festivalhaupttagen insgesamt 24 Arbeitsstunden absolvieren müssen). Es spendet alle Überschüsse an sorgsam gewählte Gruppen auf der ganzen Welt. Es setzt in Sachen Line-up wirklich auf Diversität (die insgesamt 185 Acts in diesem Jahr stammen aus 45 Ländern). Und es positioniert mit seiner weltoffenen Art ausdrücklich als Gegenpol zum politischen Mainstream Dänemarks, der vor allem gegenüber Geflüchteten einen harten, bisweilen unmenschlichen Kurs fährt – der freilich nicht weit vom deutschen Kurs entfernt ist. Und trotzdem: Wer keinen Bock hat auf Politik, kann das Roskilde auch wie jedes andere kommerzielle Riesenfestival fahren, nur die fetten Headliner schauen und dazwischen Unmengen an Bier trinken.
Deshalb – wenn die Wokies einen Riesen-Event wie diesen SO hinbekommen, dann rufen wir loud and proud: Lang lebe der Woke-Wahnsinn!
Von Oliva Rodrigo bis Stormzy: die Orange Stage
Aber genug der Vorrede. Das Roskilde ist und bleibt auch abseits von gesellschaftlichen Utopien eines der spannendsten Festivals Europas, auch wenn das seelenverwandte Glastonbury leider immer ein wenig mehr im Fokus der internationalen Berichterstattung liegt. Das merkt man auch am Headliner-Gig von Olivia Rodrigo am Festivalfreitag: Während sie auf dem Glastonbury sweete Reden über das Festival hielt, spult sie hier einen zwar perfekten, aber etwas herzlosen Standardgig ab. Kann man ihr nicht vorwerfen, bei ihrem Tourpensum, aber trotzdem etwas schade. Stormzy ist da am Vorabend anders drauf: Der UK-Rap-Gigant erinnert sich sehr wohl daran, dass ihm das Roskilde sehr früh in seiner Karriere eine große Bühne bot und füllt die charakteristische Orange Stage mit einer tollen Live-Band, stimmgewaltigen Backgroundsängerinnen und einem Set zwischen Rap und fast souligen Momenten. Auch Doechii hat sich was Besonders überlegt: Sie macht die Haupt-Bühne zu einer riesigen Boombox, gönnt sich sogar eine Rutsche und zimmert in all das noch eine Art Klassenraum: Mit ihren Tänzer:innen performt sie dann gut 50 Minuten lang eine HipHop-Nachhilfestunde, bei der man sich mehr als einmal fragt, wie oft und lang diese Frau trainiert, um so on point performen zu können.
Jamie XX ist ein gern gesehener Gast auf dem Roskilde und hat über die Jahre immer wieder tolle Sets auf dem kompletten Gelände gespielt. Diesmal gehört ihm am Freitag die Nacht auf der Orange Stage und trotz des recht bescheidenen Wetters tanzt sich dort eine beträchtliche Menschenmenge warm. Auch Damon Albarn kommt immer wieder gerne zum Roskilde. Nicht nur wie vor zwei Jahren mit Blur, sondern auch mit dem interkontinentalen Projket Africa Express. Man munkelt gar, Damon habe zwar auch ein Hotelzimmer, schlafe oft aber auch in einem Zelt auf dem Gelände. Am Sonntagnachmittag hält er sich beim Africa Express dezent im Hintergrund, spielt Piano und sagt ein paar Worte zu den Musikern, die diesmal dabei sind. Letzter Act auf der Orange am Samstag ist dann die wundervolle Tyla, die uns mit ihrem Überhit „Water“ in die Nacht entlässt.
Der Mittwoch auf der Orange Stage hat mit Abstand die beste Lightshow: Zum einen weil Charlie xcx die Laserlichter feuern lässt, zum anderen weil das Riesengewitter mit Windstärke 8 haarscharf am Festival vorbeizieht und dem Himmel zum Dauerregen ein paar furchteinflößende Blitze schenkt. Schlagzeilen der politischen – und eher diskussionswürdigen Sorte – machen dann die Fontaines D.C. am Mittwoch. Sonst zwischen ihren live sehr toll klingenden Songs eher maulfaul, widmen sie dem Krieg in Gaza einen sehr ausführlichen Wortblock, bei dem einige Aktivist:innen, sagen wir mal so: die Grenzen des Sagbaren ausloten und zumindest in der juristischen Grauzone landen. Ein schönes Geschenk an die anfangs erwähnten „Wokeness“-Gegner, die damit das ganze Festival diskreditieren können …
Mit Arca in die Arena
Die noch viel spannenderen Dinge findet man beim Roskilde aber meistens auf den Nebenbühnen oder in der Arena – ein Zelt, in dem mehrere Zehntausend Leute Platz finden. Hier ist Lola Young am Samstag der Publikumsmagnet, hier lädt FKA Twigs zum futuristischen Tanztheater, hier bringen Nine Inch Nails jung und alt in Wallung, hier klagt Anohni mit ihrer Band über den Raubbau an unserem schönen Planeten, hier zeigen Wet Leg, dass sie sowas von ready für die großen Bühnen sind – und hier flext die wundervolle Arca alles, was sie hat und hat so viel Spaß, dass sie gar nicht so recht gehen will und sogar noch eine Zugabe mehr spielt, als ursprünglich geplant.
Thierra Whack ist auf der Eos-Stage leider nicht ganz so überzeugend, wie man das erhofft hätte, aber dafür ist die amerikanische Folk-Soul-Sängerin Annahstasia am frühen Freitagmittag im Recht kleinen Gaia-Zelt zum Weinen schön. Das ist sogar wörtlich gemeint: In der ersten Reihe kann eine Frau sich nicht mehr beherrschen und wird weinend vor Glück dem letzten Song von ihrer Freundin nach draußen geführt. Später in der Nacht, an gleicher Stelle, laden Witch Club Satan aus Norwegen und das dänische Doom-Rave-Projekt JOHN CXNNOR zu einem wilden Hexensabbat. Einer dieser wilden, nächtlichen Störmomente, für die wir das Roskilde (auch) lieben.
Ikkimel mag Anal-Sex – und die anwesenden Dän:innen anscheinend auch
Mit Spannung erwartet wird auch der Auftritt von Ikkimel auf der elektronisch ausgerichten Apollo-Stage. Ein paar Deutsche sind da, aber der Laden platzt auch, weil viele Dänen gehört haben, dass hier das wilde Berlin aufschlägt. Ikki macht sich einen Spaß draus, kommt mit Partnerin in Crime Pintendari auf die Bühne und sagt auf Deutsch: „Ja! Macht mal ordentlich Lärm. Wer am lautesten ist, kann sich gleich von uns schön anpissen lassen.“ Und alle so: Whohooooo!!!!!!! Zumindest der dänische Teil des Publikums. Später erzählt sie in feinstem Schoolenglisch, dass der nächste Song „about anal sex“ sei. Und fragt: „Do you like anal sex?“ Und alle so: Whoooohooo!!!! Ein großer Spaß das alles.
Und das ist auch unser Fazit vom Roskilde Festival 2025. Wir könnten hier noch seitenweise schreiben, von den Dutzenden erhebenden Konzerten, aber das liest ja dann auch keiner mehr. Trotzdem hier noch einmal: Wenn die Wokies ein Festival organisieren, dann läuft der Laden, man säuft für einen guten Zweck, man hat nicht ständig die gleichen Line-up-Fressen vor sich und man nimmt vielleicht sogar noch den ein oder anderen klugen Gedanken mit in den Alltag. Deshalb: Lange lebe der Woke-Wahnsinn! Wenn er sich so gut anfühlt wie dieses Festival.



