So war das Haldern Pop 2025: Unser Dorf soll weirder werden
 
        Unser Nachbericht vom Haldern Pop Festival 2025, auf dem u. a. Zaho de Sagazan, Grandbrothers, Anika, Warhaus, Heavy Lungs, To Athena, Porridge Radio, Heavy Lungs und Endless Wellness spielten.
Daniel Koch (Text) und Katrin Huth (Fotos) waren für uns beim Haldern Pop Festival und sahen bei bestem Festivalwetter nicht nur starke Auftritte von etablierten Acts wie Zaho de Sagazan und Patrick Watson, sondern vor allem überzeugende Newcomer:innen wie Welly (Foto) oder PALES. Am schönsten fanden sie aber die Symbiose zwischen dem Festival und dem Dorf, in dem es stattfindet.
 
        Seit 1961 gibt es den bundesweiten Wettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden“, der leider vor einigen Jahren umbenannt wurde und heute wie ein schlechtes CDU-Plakat heißt. Wer das Haldern Pop Festival besucht, das seit 1984 in Rees-Haldern am Niederrhein stattfindet, muss zwangsläufig hin und wieder an diesen Slogan denken. (Oder vielleicht geht auch nur mir das so – aber ich bin schließlich der Typ, der hier den Nachbericht schreiben darf.) Warum das so ist? Weil dieses Festival von vielen lokalen Helfer:innen organisiert wird, weil es über die Jahre immer mehr in den Ort hineingegangen ist und weil es die eigene Dörflichkeit nicht schamhaft versteckt, sondern regelrecht zelebriert.
Die eigentliche Haupt-Spielstätte, ein alter Reitplatz an der Lohstraße, liegt eher am Rand des Dorfes Rees-Haldern, und in meinen ersten Jahren bin ich irgendwie nie auf die Idee gekommen, das sehr schöne Camping- und Festival-Gelände zu verlassen. Bis die Macher:innen des Haldern Pop anfingen, die Kirche, ein Jugendheim, den Markplatz und die vor einigen Jahren gegründete Haldern Pop Bar zu bespielen – um mich so nach und nach zu bisweilen arg festivalfrühen Stunden ins Dorf zu locken. Auch die Nachbar:innen legten sich immer mehr ins Zeug: Der Bauernhof am See tischte Frühstück, Bier und Grillzeug auf, die Lohstraße-Kids boten Kaffee und Kuchen an, die Bäckerei im Ort brachte ein unschlagbares Frühstücksangebot an den Start, die Eisdiele Spaghetti-Eis und Aperol-Spritz – und irgendwann lernte ich auch, dass man nicht alles in Kühlboxen ranschleppen muss, weil der Rewe im Grunde nur einen 20minütigen Fußweg entfernt liegt (ohne Kater schafft man es gar in 15) und man Bier und Brötchen genauso gut da kaufen kann.

Ich bin selbst in einem Dorf aufgewachsen und fuhr nach jedem weiteren Haldern-Jahr mit einem Parallel-Universum im Kopf nach Hause. Ich sah eine Welt, in der „mein“ Dorf Venne nicht auf die Idee gekommen wäre, sich als „Kuhdorf“ zu vermarkten, sondern wie Haldern ein Festival zu starten, das herausfordernde, mitreißende, ergreifende, tragische, punkige und oft ziemlich weirde Musik ins Dorf holt (wobei es seit einigen Jahren den „Venner Folk Frühling“ gibt, der das in Sachen Folkmusik schon ganz gut hinkriegt). „Unser Dorf soll schöner werden“ für Indie-Girls und -Boys halt …
Das Haldern Pop startete diesmal schon am Mittwoch
Man verzeihe meinen ausholenden Einstieg, aber vor allem die ersten Tage des diesjährigen Haldern Pop nagelten mir diesen Slogan ins Hirn. Das Festival startete diesmal schon am Mittwoch: Es gab gut kuratiere Lesungen, ein sehr spezielles Kino-Event in der Kirche – und vor allem ein geselliges Ankommen auf dem Campingplatz, der ebenfalls zum ersten Mal am Mittwoch für das Publikum eröffnet wurde. Haldern ist (auch) ein Camping-Festival, weil hier viele Freundesgruppen seit Jahren anreisen und naturgemäß gerne Zeit unter dem Pavillon verbringen. Trotzdem zog es viele in den Ortskern, um zum Beispiel Vincent Moon’s Live Cinema zu sehen. Der Regisseur und Dokumentarfilmer, den viele wegen seiner fantastischen „Take-Away Shows“ (mit Acts wie Arcade Fire, Xiu Xiu, The Shins, St. Vincent oder The National) kennen, zeigte in der Kirche „St. Georg“ nicht etwa ein live gemischtes Best-of dieser Sessions, sondern eine weirde, faszinierende, auf der ganzen Welt gefilmte Mediation über religiöse Praktiken, die mich zur einen Hälfte verwirrt und zu anderen begeistert zurückließ.

Der Donnerstag zwischen Punk-Frühschoppen, Indie-Gospel und Piano-Elektro
Schon am nächsten Morgen um 10 Uhr saß ich wieder mit Freund:innen vor der Kirche, weil wir unbedingt die Schweizer Musikerin To Athena und ihre Band sehen wollten. Wir wurden nicht nur mit dem besten Blick aus der ersten Bankreihe belohnt, sondern auch mit einem Konzert, das mir die Tränen in die Augen trieb. Die neunköpfige Band kam nicht nur mit Bratsche, Cello und Harfe, sondern auch mit einer ansteckenden Spielfreude. Vor allem die Schweizerdeutschen Songs „Es näscht“ und „Angscht“ krochen unter die Haut und ins Herz – vor allem, weil To Athena letzteres komplett unplugged spielte.

Gut anderthalb Stunden später stand ich dann in der kleinfeinen Haldern Pop Bar und ließ mich von den Heavy Lungs aufs Schönste anschreien. Frontmann Danny Nedelko kennen sicher viele aus dem gleichnamigen Song über ihn von den Idles, mich erinnerte seine Performance aber vor allem an den jungen Frank Carter und die ersten Gallows-Konzerte. Hier dachte ich eher „Unser Dorf soll lauter werden“, als ich im mittäglichen Moshpit schwitzte und über die Energie und das Charisma von Nedelko staunte, während mir jemand einen Ellenbogen in die Rippen rammte und Nedelko durch den Moshpit drängte, um auf der Theke weiterzusingen.

Parallel dazu zog Hauschka die Kirchengänger:innen in seinen Bann, spielte einen einzigen 45-minüten Song und ließ sein preisgekröntes Pianospiel von mal britzelnden, mal schiebenden Beats massieren.

Erst am Donnerstag-Nachmittag entdeckte ich dann so langsam das Hauptgelände für mich, auf dem man die nächsten Stunden zwischen dem Spiegelzelt, dem Niederrhein Zelt und der Hauptbühne herumsprang. An dieser Stelle sollte ich vielleicht klarstellen: Das Haldern Pop ist eines dieser Festivals, deren Line-ups viel zu umfangreich sind, um in einer Nachlese wie dieser komplett eingefangen zu werden. Das Booking-Team ist nämlich auf allen namhaften Showcase Festivals unterwegs und sammelt dabei fast schon zu viele gute Live-Acts auf – von denen sich viele noch am Anfang ihrer Karriere befinden, aber schon den ersten Buzz ausgelöst haben. Man verzeihe mir also, dass ich hier nur etwas atemlos durch meine Faves reiten kann und die Unerwähnten nicht etwa zu schlecht für einen Nachbericht, sondern schlichtweg nicht zu schaffen waren (wenn man eben nicht nur als Journalist, sondern auch als Teil einer tollen Festival-Freundes-Gang hier ist).

Vom Donnerstag blieben neben den erwähnten Acts vor allem der belgische Songwriter Dressed Like Boys, dessen Balladen „Stonewall Riots Forever“ und „Lies“ ab sofort mietfrei in meinem Herzen wohnen. Die Britpop-Boys Bilk müssen meiner Meinung nach songwriterisch noch ein wenig auf die Weide, haben aber schon ein paar Hits auf Tasche. Die irischen Cliffords um Sängerin Iona Lynch wiederum haben schon die richtigen Songs und brauchen nur ein größeres Publikum. Joan As Police Woman überzeugt eh immer, während mir Alabaster DePlume auf dem Roskilde ein wenig besser gefiel. Infinity Song und Grandbrothers waren bestes Hauptbühnenmaterial (und zeigen sehr gut, was das Haldern stilistisch so alles auf große Bühnen bringt) und die in Wien lebenden Endless Wellness das perfekte Zuckerl vor dem begeisterten Gang zum Zelt.

Der Freitag zwischen Antifa-Kirchentag und Zaho-de-Sagazan-Messe
Am Freitag überraschte der deutscher Sänger und Songwriter Marlo Grosshardt viele, über den ich „Antifa trifft Kirchentag in cool“ in meine Handynotizen tippte – was die Sache, meiner Meinung nach, ganz gut trifft. Overpass aus dem (gar nicht mal so) schönen Birmingham und die schweizerischen Soft Loft zeigten, dass Gitarrenmusik eine Zukunft hat und Loney Dear, dass er nicht umsonst Stammgast beim Haldern Pop ist. Chartreuse muss man sich merken, wenn man intelligenten, shoegazigen Indie mag und Anika ist mit ihrem abgründigen Sound und ihrer tiefen Stimme eh immer ein Muss. Gleiches gilt für Sylvie Kreusch, die in meinen Augen ihrer früheren Band Warhaus schon lange die Show stiehlt.

Ein wenig enttäuschend für mich: Eben Warhaus, dessen Sänger Maarten Devoldere of Balthazar Fame meiner Meinung nach mehr Swag hat, als seine Songs meistens einlösen. Und Maruja, die als eine Mischung aus John Coltrane und Rage Against The Machine angekündigt wurden, auf der Bühne aber durch unsympathische Macker-Vibes, Testosteron-Overkill und halbgaren, eher performativen politischen Statements auffielen. Zaho de Sagazan hingegen war live natürlich wie immer ein Erlebnis mit ihrem Chanson-triff-Daft-Punk-Vibes – auch wenn sie diesmal ein paar Songs brauchte, um das Publikum einzufangen.
Der Samstag mit Britpop-Twens und weirden Duos
Der Samstag hatte wieder einen dieser frühen Haldern Pop Bar-Momente, als die blutjungen britischen Welly um Punkt 11 den Laden zum Ausrasten brachten. Wer das Quintett aus Southampton auf der Bühne sieht, glaubt bisweilen die Kids von Damon Albarn, Eddie Argos und Jarvis Cocker vor sich zu haben. Ihr cheeky Indie-Pop und ihre spitzbübische Energie haben aber auch genug Eigenständigkeit, um nicht als Kopie abgestempelt zu werden. Auch die Schlagfertigkeit und der Witz von Sänger Elliot Hall sind ebenso beeindruckend wie unterhaltsam.

Auf der Hauptbühne verdrehten mir die japanischen Noise-Rocker von Bo Ningen in der Mittagssonne das Hirn, während die Gurriers im Vergleich zu früheren Gigs ein wenig Energie eingebüßt zu haben scheinen. Mên An Tol aus London zeigten mit Songs wie „The Country“ und „NW1“, das man sich auf halber Strecke zwischen Oasis und The Verve sehr wohl fühlen kann, während andere Lieder noch ein wenig mehr Fleisch am Knochen vertragen hätten. CVC und Extralisco waren das geschmeidige Live-Party-Programm, während Porridge Radio noch einmal zeigten, warum man sie bald vermissen wird. Weirdest Act des Tages waren dann entweder Mermaid Chunky oder Brigitte Calls Me Baby. Erstere lieferten tolle Blockflötensoli (das ich diese Worte mal schreiben mag …) und verspult-poetische Song-Skizzen, die manchmal wirkten, als wollten sie damit das traditionelle Konzerterlebnis trollen. Brigitte Calls Me Baby aus Chicago wiederum haben einen bescheuerten Namen, einen Modestyle, der wie The-Smiths-Cosplay wirkt, aber gute Songs und mit Wes Leavins einen Frontmann, den man geradezu anstarren muss – nur um dabei festzustellen, dass er bei ca. 35 Grad im Spiegelzelt in seinem schwarzen Anzug nicht wirklich zu schwitzen scheint. Dazu sieht dieser Mann aus wie eine Mischung aus dem jungen Dolph Lundgren und dem jungen Morrissey – und singt auch exakt so.
Headliner am Samstag war der kanadische Songwriter-Star Patrick Watson, der viel Eleganz, Pathos, Leidenschaft und Stimme auf die Bühne brachte – und in seinen besten Momenten vom Halderner Chor Cantus Domus begleitet wurde. Mit PALES aus Frankreich gab es dann im Niederrhein Zelt den perfekten Arschtritt für den Abend: ihr Noise-Post-Punk und die unfassbare Energie der Sängerin Célia Souarit sorgten noch einmal für den letzten Moshpit des Abends und des Festivals.

Unser Dorf soll … werden
Während all dieser Konzerte sah man im Publikum immer wieder alte und junge Menschen aus Rees-Haldern, die sich manchmal Bands anschauten, die todsicher nicht in ihren Partykellern und Wohnzimmern liefen. Selbst bei Mermaid Chunky blieben sie stehen, obwohl sie sich ganz augenscheinlich fragten, welchen Film diese beiden Musikerinnen da gerade schoben.

Vielleicht war es (neben dem Wunsch, mein Heimatdorf hätte so ein Festival) dieser Anblick, der mich auf den Titel dieses Textes brachte: Das Haldern Pop ist nicht nur ein Festival, das Menschen mit Neugier auf neue Musik an den Niederrhein lockt, es ist auch ein permanenter Beitrag für „Unser Dorf soll schöner werden“. Wobei man das Adjektiv dann gerne ändern möge, denn dieses Dorf wird am Haldern-Wochenende in meinen Augen nicht nur schöner, sondern auch wilder, bunter, lauter, dramatischer, ergreifender, verwirrender, neugieriger, empathischer – und natürlich weirder.
 
                                            


