ME-Helden

Sly & The Family Stone: Ein freieres Amerika

Ihr funky Soul stand (nicht nur) in den Sechzigern für musikgewordene Utopien. Eine Würdigung.

In den 60ern revolutionieren Sly & The Family Stone die Soulmusik und werden zur mensch- und musikgewordenen Utopie einer diversen Gesellschaft. Gleich zweimal liefern sie den Soundtrack zu entscheidenden Momenten ihrer Generation: zur Aufbruchsstimmung des Woodstock-Sommer und zur großen Ernüchterung danach. Alles angeführt vom komplizierten Genie Sly Stone, dem ersten großen Remixer.

Am 29. Dezember 1968 landen in New YorkAliens in bunten Glitzeranzügen und Lederwesten. Mitten in Manhattan, Broadway Ecke 39th Street, im wichtigsten Fernsehstudio Amerikas. Von hier aus wird die populäre „Ed Sullivan Show“ ausgestrahlt. Millionen von Amerikanern schauen zu.

Okay, Aliens sind die acht Musiker auf der Bühne nicht wirklich. Die Wucht ihrer Ankunft in den US-Wohnzimmern fühlt sich aber so an. Denn für ihre Zeit gehören Sly & The Family Stone zu einer seltsamen, extrem seltenen Art: eine gemischte Band, aus Schwarzen und Weißen, Frauen und Männern. Eine Anomalie. Mit Afros und in fabelhaften Kostümen, die in allen Farben des Regenbogens schimmern. Und mit einem unwiderstehlichen Sound. Bevor sie ein Medley ihrer Hits spielen – „Everyday People“, „Dance To The Music“, „Sing A Simple Song“, „I Want To Take You Higher“ –, spricht Sly Stone noch ins Mikrofon: „Don’t hate the black, don’t hate the white. If you get bitten simply hate the bite“ – Hass nicht die Schwarzen, hass nicht die Weißen. Wenn du gebissen wirst, dann hass doch einfach den Biss! Dann flutet ein Sound das Studio, der auf magische Weise eine Brücke zwischen den Beatles und James Brown schlägt. Ansteckende Radio-Hits, gespielt von der vielleicht besten Funkband der Popgeschichte. Am Ende steht Sly Stone mit seiner Schwester Rose im (vornehmlich weißen) Publikum, das gar nicht weiß, wie ihm geschieht, und begeistert, aber hilflos mitklatscht, auf die Eins und Drei.

Wo kommt dieser Sly Stone her, der in den späten 60er- und frühen 70er-Jahren gleich mehrere Musikgenres revolutioniert und das Unmögliche für einen ein paar Jahre möglich erscheinen lässt? Wo beginnt seine Geschichte?

Geboren 1943 als Sylvester Stewart, wächst er in Vallejo, Kalifornien, auf. Sly hat den Gospel im Blut. Schon mit elf beherrscht er Schlagzeug, Keyboard, Gitarre und Bass. In der Highschool spielt er in Doo-Wop-Bands und zieht Anfang der 60er nach San Francisco, das bald zum Zentrum der Hippie-Bewegung werden soll. Nur ein paar Jahre später ist Sly mit gerade mal 21 ein Fixpunkt der lokalen Musikszene. Er schreibt und produziert Hits für das junge Label Autumn Records (u.a. The Beau Brummels, Vorreiter der Rockszene, aber auch Soulsänger Bobby Freeman). Er hat eine Radioshow bei KSOL, einem populären Soul-Sender der Bay Area. Sly mixt Bob Dylan und die Beatles ins Format. „Ich denke, es sollte kein ‚Black Radio‘ geben. Nur Radio“, sagte er später dem „Rolling Stone“. „Jeder sollte ein Teil von allem sein.“ Wie kein Zweiter bringt er die entscheidenden Einflüsse der Zeit zusammen: R’n’B, British Invasion und frühen Psychedelic Rock. Er ist alles auf einmal und in allem brillant: DJ, Musiker, Produzent, Moderator und bald auch Bandleader.

1966 formt er seine Band, die Family Stone. Seine Schwester Rose spielt Keyboard, sein Bruder Freddie Gitarre, Cynthia Robinson Trompete, Jerry Martini Saxofon, Greg Errico Schlagzeug und Larry Graham Bass. Drei schwarze Männer, zwei Frauen, zwei white dudes. Die Zusammenstellung ist kein Zufall. „Die Band hatte ein Konzept“, schreibt Stone in seiner 2023 erschienenen Autobiografie, „Weiße und Schwarze zusammen, Männer und Frauen, und Frauen, die nicht nur singen, sondern auch Instrumente spielen. Das war damals eine Riesensache, und das war Absicht.“ Es sind die tosenden Jahre der Bürgerrechtsbewegung in den USA. Und Sly & The Family Stone werden zu Pionieren der Inklusion. Diversity before diversity became a thing. Die Utopie eines offenen, vielfältigen, post-feministischen Amerikas.

Und dann ist da ja auch noch die Musik – geschrieben, konzipiert und produziert von Multiinstrumentalist und Wunderkind Sly Stone. In ihr spiegelt sich die eklektische, vielstimmige Qualität der Family Stone wider. Stone verändert das Gesicht von schwarzer Musik, die plötzlich nicht mehr auf Jazz, Blues oder Classic Soul festgelegt ist, oder der Motown-Erfolgsformel folgen muss.

Seinen Anfang nimmt alles mit „Dance To The Music“, diese saftige Hitsingle, zusammengesetzt aus funky Basslines, Bläsersätzen und Gitarrenlicks, aus einstimmigen Vocals und Harmoniegesang. Jedes Bandmitglied hat seinen Solomoment, bevor alle wieder zusammenkommen. Jeder einzelne Teil ist hitverdächtig. Und Stone verwebt alles auf magische Weise. Es ist eine völlig neue Inklusionserfahrung in Popform.

Der Song erscheint im November 1967 und schlägt wie das gleichnamige Album ein wie eine Bombe. Dann geht alles rasend schnell. Zu schnell vielleicht. Aber dazu kommen wir noch. Schon im Frühling 1968 spielt die Band zwei ausverkaufte Shows mit The Jimi Hendrix Experience in New York. Eine weitere Hitsingle erscheint („Everyday People“ steigt bis auf Platz eins der US-Charts) und noch eine und noch eine und … („Sing A Simple Song“, „Stand!“, „Hot Fun In The Summertime“, „Thank You (Falettinme Be Mice Elf Agin)“). Die Family Stone spielt bei Ed Sullivan. Und dann – auf dem Zenit des Ruhms – ein legendäres Set beim Woodstock Festival im August 1969. Nach nur anderthalb Jahren sprechen die Leute damals von Sly Stone in einem Atemzug mit Bob Dylan und John Lennon.

Was seine Musik so unwiderstehlich macht, ist der Crossover-Appeal: die Verschmelzung von Sounds, die an verschiedenen Punkten der Kultur brodelten und die Menschen bewegten: Pop, Rock, Soul, Folk, Gospel, British Invasion und Psychedelia. So einflussreich war dieser neue Sound, dass plötzlich alle so klingen wollten, sogar die Acts der gutgeölten Motown-Maschine. Niemand — nicht Phil Spector, nicht Stax, nicht einmal die Beatles — hatte sie vorher schon mal von ihrem Kurs abgebracht. Bis Sly & The Family Stone kamen.

Neben dem Sound ist da auch dieser strahlende Optimismus in den Songs. Die Lyrics erzählen von Freude, Aufbruchsstimmung und Gemeinschaft: „We got to live together / Ooh, sha-sha / I am everyday people“.

„Push a little harder / Think a little deeper / You can make it if you try“.

„I want to take you higher / Boom laka-laka-laka“.

„Everybody is a star / One big circle goin’ round and round / Shine, shine, shine, shine“.

Diese Songs sind Zukunftsmusik: Musik, die davon erzählt, was möglich ist. Und die späten 60er sind eine Zeit, in der für einen kurzen Moment alles möglich erscheint. Nur wenige sind damals wie Sly in der Lage, ein so strahlend utopisches Bild zu zeichnen, ohne vor der Realität, der Gewalt und den Rassenunruhen zurückzuschrecken, die nicht nur durch Amerika, sondern die ganze Welt wogen.

Zoomen wir mal kurz raus: 1968 ist der Höhepunkt weltweiter Studenten- und Bürgerrechtsbewegungen: In den USA gibt es Anti-Vietnamkriegs-Märsche und Unruhen nach der Ermordung von Martin Luther King, in Europa die Mai-Unruhen in Frankreich, den Prager Frühling und die großen Studentenproteste in Deutschland nach dem Attentat auf Rudi Dutschke, und bei der Olympiade in Mexiko City recken zwei Schwarze US-Athleten die Fäuste zum Black-Power-Protest. Es ist eine Zeit voller Dissonanz und Möglichkeiten. Alles kann jederzeit in die Luft fliegen. Und eine ganze Generation ist bereit, die Welt nach dem großen Knall neu zusammenzusetzen. 1968 ist eine kulturelle Atombombe.

Und Sly & The Family Stone liefern den Soundtrack dazu. Sly ist Ende der 60er der einzige Superstar, der Schwarze und Weiße, Hippies und Normalos gleichermaßen anspricht. In einer Zeit der politischen Unruhe und Spaltung bringt er die Menschen zusammen.

„Alles, was du machen kannst, ist, die Leute zu inspirieren und sie in die Welt zu entlassen.“ So versteht Sly seinen Job als Musiker. Keine Band hat vor seiner Family Stone so straffe, elastische, groovy Dancemusic gemacht. Trotzdem spürt man, dass sie in sync sind mit dem, was gesellschaftspolitisch um sie­ herum passiert, auch wenn sie sich nicht als politische Band bezeichnen.

Sly Stone hatte selbst in seinen heitersten Momenten die herumliegenden Scherben im Auge. „Thank You (Falettinme Be Mice Elf Agin)“, der vielleicht funkiest song ever recorded mit dem seltsamen Titel (eine Verballhornung von „Thank you for letting me be myself again“), beginnt mit der finsteren Zeile: „Lookin’ at the devil, grinnin’ at his gun“. Aber vor allem ist da „Stand!“ mit seinem Ausrufezeichen im Titel und der ansteckenden Botschaft: Aufstehen für sich selbst, seine Community, und das, an was man glaubt.

Woodstock ist der Moment, in dem alles beginnt, in sich zusammenzubrechen – für ihn und für die ganze Love Generation. 400.000 Hippies sind zusammengekommen. Sly & The Family Stone spielen spät in der Samstagnacht ein elektrisierendes, mit Drogen angereichertes Set (nach Janis Joplin, vor The Who).

„Nach Woodstock hat alles geleuchtet“, schreibt Sly in seiner Autobiografie „Thank You (Falettinme Be Mice Elf Again)“. Und in einem TV-Interview von 1982: „Es war ein bisschen zu groß. Es war fast zu groß. Zu viel auf einmal.“ Woodstock ist Höhepunkt und Endpunkt zugleich. Nur vier Monate später wird auf einem weiteren Hippie-Festival auf dem Altamont Speedway ein junger Schwarzer erstochen, nur wenige Meter von der Bühne entfernt, auf der die Rolling Stones gerade „Under My Thumb“ spielen. Die Utopie ist tot. Es ist ein bitteres Erwachen: Nach all den Protesten, Festivals und Sit-Ins ist die Welt immer noch scheiße und voller Armut und Gewalt. Die Arschlöcher haben immer noch das Sagen. Der Vietnamkrieg ist immer noch nicht vorbei. Alle Revolutionen scheinen ins Leere zu laufen.

Der Traum von Peace and Love wird sich genauso wenig erfüllen wie der einer langen, einflussreichen Karriere für Sly Stone, dessen Drogenkonsum in dieser Zeit langsam außer Kontrolle gerät. Die Drogen werden ihn in den Abgrund stoßen. Aber ganz so weit ist es 1970 noch nicht. Erst mal kommt er nur immer häufiger zu spät – oder gar nicht – zu Konzerten. Das Verhältnis zur Band verschlechtert sich. Vielleicht ist es der Ruhm, vielleicht die Angst und Enttäuschung der Zeitenwende, vielleicht beides.

The good times are over. Vorbei war es auch mit dem optimistischen Family-Stone-Sound. Als 1971 – nach für diese Ära unfassbar langen zweieinhalb Jahren – endlich ein neues Album erscheint, klingt es genauso düster und paranoid taumelnd, wie sich die Gegenwart anfühlt. Musik für eine Zeit, in der „die Möglichkeit aus dem Möglichen entwich und ein Gefühl der Leere hinterließ“, wie Sly Stone es in einem Interview mit dem „Guardian“ formuliert.

THERE’S A RIOT GOIN’ ON ist ein komplexes, selbstreferenzielles, unzusammenhängendes Konzeptalbum mit einer betäubenden Wirkung. Ein schwieriges Meisterwerk. Aber ein Meisterwerk. Es spaltet Kritiker:innen und Publikum und steigt dennoch bis auf Platz eins der US-Charts.

Der Titel ist eine Antwort auf Marvin Gayes sechs Monate zuvor erschienenes WHAT’S GOING ON. Das Konzept ist brillant. Mit RIOT erhebt Sly Stone das Album zu einer Kunstform, die zuvor weißen Musiker:innen vorbehalten war. Es ist moderner Blues mit viel Overdubbing und einem hermetisch dichten Sound, mit einer unterschwelligen Wut und brutal ehrlichen Texten: „One child grows up to be somebody that just loves to learn / And another child grows up to be somebody you’d just love to burn.“ Slys Gesang dieser ersten Zeilen der Hitsingle „Family Affair“ klingt heiser und narkotisiert. Und doch ist diese Musik aufregend, weil sie es schafft, energielos und nervenaufreibend zugleich zu klingen. Er fängt die Erschöpfung und Paranoia der Schwarzen im Amerika dieser Jahre ein wie kein Zweiter. Die erste Seite der LP endet mit dem Titeltrack, der nie kommt, weil er 0:00 Minuten lang ist. Was kommt, sind nur ein paar Sekunden stilles Knistern in der Auslaufrille. Ein uneingelöstes Versprechen. There is no riot going on.

Auf RIOT passiert aber dann noch eine ganz andere Revolution. Weil der Drummer Greg Errico die Band verlassen hat, hat Sly ihn einfach durch einen Drum Machine ersetzt – eine 1971 noch verpönte Technologie. Aber Sly bearbeitet die Beats so lange, bis ein ganz neuer Sound herauskommt. „Family Affair“ wird zur ersten Nummer-1-Single mit Drum Machine – und stilprägender Vorläufer des Disco-Booms. Auf dem Album findet sich auch ein früher Vorläufer von Chopped and Screwed, der Remix-Technik, die später im Südstaaten-HipHop so einflussreich werden sollte. „Thank You For Talkin’ To Me Africa“ ist eine siebenminütige, verlangsamte, schleifende Slow-Funk-Version seiner alten Hitsingle „Thank You (Falettinme Be Mice Elf Agin)“.

Apropos HipHop: Sly Stones Einfluss auf das Genre kann gar nicht oft genug betont werden. In seinen Produktionen sind die Grundsteine schon angelegt: der Eklektizismus der verschiedenen Einflüsse, das innovative Zusammenmixen verschiedener Elemente. Sly Stone ist der erste große Remixer. Seine Musik war nie Monolith, sondern immer Synthese aus viele Stimmen, Instrumenten, Impulsen und Ideen. Eine neue Welt aus alten Teilen. Das schauen sich die Kids, die in den 70ern in der Bronx HipHop erfinden, unter anderem bei ihm ab. Und in den 80ern und 90ern sind Family-Stone-Songs beliebte Quelle für Samples.

Überhaupt hat Sly Stone zahllose Nachkommen im Geiste: Sein Eifer, seine Studio-Magic, sein Sound, all das setzt sich in einer langen Ahnenlinie bis heute fort: Ohne Sly kein P-Funk, kein Funkadelic und Parliament. Kein Stevie Wonder, der sich künstlerisch von Motown freischwimmt. Keine Jazz Fusion auf Miles Davis ON THE CORNER. Ohne Sly kein Prince, der in den 80ern seine Band The Revolution nach seinem Vorbild ausrichtete. Keine Genre-Synthese bei Outkast. Kein Kendrick Lamar, der sich den Erwartungen an das Wie oder Was seiner Black Message kompromisslos entzieht. Ohne Sly kein:e Herbie Hancock, Janet Jackson, Talking Heads, D’Angelo, Erykah Badu, A Tribe Called Quest, Childish Gambino, Steve Lacy.

Woran liegt es, dass Sly Stones musikalische Revolutionen im Gedächtnis der Popgeschichte über die Jahre trotzdem so verblasst sind (zumal im Vergleich zu all den großen, von ihm beeinflussten Namen) und dank der Autobiografie und des Dokumentarfilms „Sly Lives!“ von Roots-Drummer Questlove (2025) erst jetzt wieder stärker gewürdigt werden? Man könnte auch fragen: Warum kommt dieser Text so spät in unserer langen ME-Heldenreihe? Zunächst einmal bringt sich Sly in den 70ern langsam selbst zur Strecke. Es folgen zwar noch zwei gute Alben, FRESH (1973) und SMALL TALK (1974), begleitet von ein paar größenwahnsinnigen Publicity Stunts (auf dem Höhepunkt seiner Bekanntheit feiert er eine Show-Hochzeit im ausverkauften Madison Square Garden). Aber dann nur noch ein stiller Fade-out. Die Drogen nehmen Überhand, die Hits bleiben aus, die Band zerfällt, die Welt verliert das Interesse und ihn aus dem Blick. Die vier Platten zwischen 1975 und 1983 sind nahezu vergessen (und nicht besonders gut). Und in den 80ern verschwindet er 40 Jahre lang in einem Nebel aus Drogen und Geldproblemen. Bei der Einführung in die Rock’n’Roll-Hall of Fame 1993 springt er nur kurz auf die Bühne, sagt danke und ist wieder weg. Erst seit ein paar Jahren ist er clean.

Questlove stellt in seiner Dokumentation die Frage, ob Sly unter dem Druck, ein Schwarzes Genie zu sein, implodierte – dem Gefühl, in einem gespaltenen Land alles für jeden sein zu müssen. Sich neu zu erfinden, das war damals weißen Musikern wie Bowie vorbehalten. „Es gab keine Blaupause dafür“, sagt der Historiker Mark Anthony Neal über Sly in den frühen 70ern. „Es
hatte vorher nie einen schwarzen Elvis gegeben.“