Xmal Deutschland

GIFT: THE 4AD YEARS

4AD/Beggars (VÖ: 9.5.)

Big in UK: Eine Band aus Hamburg erobert 1983 die Gothic-Discos. In Deutschland bleiben ihre beiden Postpunk-Alben ein Geheimnis. Nun wird es gelüftet.

Wie kriegt man dieses Deutschland 15 Jahre nach Kriegsende zwischen zwei Buchdeckel, fragte sich Anfang der Sechzigerjahre der Journalist Rudolf Walter Leonhardt. Er wählte die Form eines Panoramas: Kurze Episoden über die „SPD und Willy Brandt“, deutschen Humor, „Kumpels zwischen Kohlen und Kleingärten“ und „Wohlstandsfragen auf Sylt“. Als Titel seines Buches wählte er „Xmal Deutschland“. Mit dem X als „mathematischem Symbol für eine unbekannte Größe“, wie damals der „Spiegel“ anmerkte. Stark auch der Untertitel des Buches: „Panoramen einer modernen Welt“.

Eine gerade gegründete Band aus Hamburg fühlt sich 1980 davon angesprochen. So nennen die fünf Frauen ihre Gruppe Xmal Deutschland – und spielen Musik einer modernen Welt. Die wird Anfang der Achtziger von nuklearer Paranoia und neoliberaler Kälte geprägt. Man erkennt das an den Farbtönen der Fernsehfilme jener Zeit, das kräftige Orange der Siebziger ist verschwunden, vieles wirkt matt und grau. In Berlin ist immer Winter, und in Hamburg regnet es. Welche andere Musik als die von Xmal Deutschland sollte man in dieser Umgebung spielen?

Das Bunte verschwindet, alles wirkt blass und dunkel

Xmal Deutschland liefern auf ihrer ersten Single für das ZickZack-Label eine Art Postpunk, der so tut, als müsse man von Hamburg aus nur die Elbe runterrutschen und sich ein bisschen treiben lassen, um England zu erreichen. Dort finden sich in Leeds und London junge Menschen zusammen, die „Punk Gothique“ entwickeln: eine theatralische Seite des Punk, in der das Bunte verschwindet, alles blass und dunkel wirkt. Passend zum Zeitgeist.

Schnell bilden sich Inseln mit besonderer Ästhetik. In London erlaubt das Label Beggars Banquet seinem Mitarbeiter Ivo Watts-Russell, ein eigenes Label zu gründen, 4AD. Seine Idee: In der Finsternis nach Eleganz zu suchen, nach runden Formen und verhallter Schönheit. Die schottischen Cocteau Twins setzen diese Ästhetik als Erste um, ihr Debüt GARLANDS erscheint 1982. Als eine Tour der Band geplant wird, entdeckt Watts-Russell Xmal Deutschland. Er bucht sie ins Vorprogramm der Cocteau Twins, gibt ihnen einen Plattenvertrag. Plötzlich ist diese Hamburger Band ein britisches Indie-Phänomen. Mit der Folge, dass ihre Platten dort leicht zu haben sind, in Deutschland dagegen wie gut gehütete Geheimnisse von Kassette auf Kassette kopiert werden.

Die Titel der Songs und Alben zeigen, dass diese Musik nicht mild und verträumt klingt, sondern explizit und körperlich

Zwei LPs nehmen Xmal Deutschland für 4AD auf, zunächst FETISCH (1983), dann TOCSIN. Nachdem im vergangenen Jahr mit EARLY SINGLES 1981-1982 bereits die Musik der ZickZack-Singles wiederveröffentlicht wurde, sind jetzt die beiden 4AD-Werke dran: GIFT – THE 4AD YEARS koppelt auf drei LPs die 19 Songs der zwei Alben, ergänzt um Stücke von der „Qual“-EP sowie der Seven-Inch „Incubus Succubus II“, eine Neueinspielung der frühen ZickZack-Single, bis heute ein Hit in den Gothic-Discos.

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Die Titel der Songs und Alben zeigen, dass diese Musik nicht mild und verträumt klingt, sondern explizit und körperlich. Sängerin und Texterin Anja Huwe prägt sie mit ihrer fordernden, oft beinahe ungeduldigen Stimme, die dazu motiviert, seltsame Dinge zu tun. Ihr in den Mund zu spucken, zum Beispiel. Mit dieser Klarheit ist Huwe als Sängerin das Gegenteil Elizabeth Frasers von den Cocteau Twins, die ja eine eigene Sprache erfindet.

Aus der Finsternis heraustreten

Trotzdem hat man das Gefühl, dass beide das Gleiche wollen: aus der Finsternis heraustreten. Wichtig für den Klang von Xmal Deutschland sind die trockenverzerrten Sägewerk-Gitarren von Manuela Rickers sowie die Gespensterkeyboards von Fiona Sangster. Auf den Songs von FETISCH (produziert von Watts Russell) kommen die Drums von Manuela Zwingmann, die sich bei „In der Nacht“ von Joy Division inspirieren lässt. Wobei deren Schlagzeuger Stephen Morris wiederum von Can und anderen Krautrockern beeinflusst ist, womit sich ein Kreis schließt.

Die Produktion des zweiten 4AD-Albums TOCSIN übernimmt Mick Glossop, der mit seiner Arbeit für Magazine und P.I.L. den Sound des britischen Postpunk mitgeprägte. Sein Einfluss sowie der neue Schlagzeuger Peter Bellendir sorgen dafür, dass die TOCSIN-Stücke voller und stringenter klingen. Dafür besitzen viele von ihnen einladende Melodien, „Augen.Blick“ oder „Reigen“ zum Beispiel, zwei Songs, die auch rechtfertigen, dass man Xmal Deutschland immer wieder mit Siouxsie & The Banshees vergleicht. Aufgrund des kraftvollen Gesangs. Aber auch, weil man ahnt, dass hinter der Musik beider Acts einige Abgründe warten: Xmal den Halt verlieren.

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