Lucrecia Dalt
A DANGER TO OURSELVES
RVNG Intl./Cargo (VÖ: 5.9.)
Experimental-Pop trifft auf profunde Sinnlichkeit: Die kolumbianische Künstlerin malt mit tödlichem Ernst emotionale Abgründe.
Bekannt wurde Lucrecia Dalt 2022 mit ihrem Album ¡AY!. Wo sie zuvor etwa auf ANTICLINES und NO ERA SÓLIDA noch einen experimentelleren Ansatz verfolgt hatte und dem Pop weniger Platz einräumte, schlug das Pendel vor drei Jahren gleichmäßig zu beiden Seiten aus. Auf A DANGER TO OURSELVES bleibt es dabei, nur präsentiert Dalt sich in ihrer bis dato künstlerisch vollkommensten Ausprägung. Das mag auch daran liegen, dass sie die Inspiration für ihr aktuelles Werk nicht aus südamerikanischen Sagen oder fiktionalen Narrativen bezieht, sondern „aus den Komplexitäten zwischenmenschlicher Verbindungen“.
Geboren in Kolumbien, lässt sich die Experimentalkünstlerin und Sängerin, das zieht sich durch ihr ganzes Werk, nur schwer auf ein Genre festnageln. Ebenso durch ihr ganzes Werk zieht sich aber eine profunde Sinnlichkeit, egal wie morbide, entrückt oder abstrakt die Inspirationsquellen sind, die Dalt in Musik gießt. A DANGER TO OURSELVES dürfte ihr bislang dramatischstes Album sein, nicht nur im emotionalen, auch im wörtlichen, szenischen Sinne: Dalt, die mit tatsächlichem Nachnamen López heißt, spricht und singt ihre Vocals mit traumwandlerischer Selbstsicherheit, mit einer Unerschrockenheit, die sich diesseitigen Parametern entzieht: Auf „No Death No Danger“ erledigt sie das mit dem größtmöglichen Register an Stimmungen: aggressiv, fordernd, unbeirrbar, und absolut siegessicher.
Lucrecia Dalt muss nicht laut sein, muss Aufmerksamkeit nicht offensiv beanspruchen
Als Fundament dient, wie auch auf dem restlichen Album, das sparsam eingesetzte Schlagwerk von Alex Lázaro, dessen Drumming die Leerstellen, in die Dalt stößt, überhaupt erst schafft. „Hasta el final“ in der Albummitte wirkt wie für die ganz große Leinwand konzipiert, fast wie mit klassischer Partitur umgesetzt – in allen Belangen eine Machtdemonstration einer Künstlerin auf der Höhe ihrer Schaffenskraft: der behände Aufbau, die dramatischen Streicher, Dalts zerbrechliche, in Selbstaufgabe getränkte Stimme, die am Ende der Regen überspült und damit einen großen Pop Moment dieses Jahres besiegelt.
Morbider geht es auf dem Opener „Cosa Rara“ zu, den Dalt sich mit David Sylvian teilt. Über sanften Claps und dezentem Bassspiel – erneut eines dieser idealen Arrangements, das die Grundlage für das große, sinnliche Theater bietet, das Dalt inszeniert – bewegt sich die Sängerin apathisch, aber sehenden Auges auf einen Autounfall zu. Sylvian erscheint danach glasklar nach vorne gemischt und vergleicht eine zerbrochene Beziehung treffend mit einem Drogenentzug. Dass dieser Song nur den Auftakt zu A DANGER TO OURSELVES macht, ist Prophezeiung und Programmatik gleichermaßen. Das Kleinod „Amorcito caradura“ löst diese Spannung im Anschluss kurzfristig auf und offenbart Dalts Faible für südamerikanische Musiktraditionen.
Lucrecia Dalt, die sich je nach Song für Spanisch oder Englisch entscheidet, muss nicht laut sein, muss Aufmerksamkeit nicht offensiv beanspruchen, sie bekommt sie inzwischen auch auf Albumlänge ganz automatisch, während sich ihre Stimme wie ein Gestaltwandler zwischen akzentuierendem Schlagwerk, sanftem Gitarrenspiel und Streichern hindurchwindet – und mit tödlichem Ernst eine Leinwand mit den Farben menschlichen Begehrens und emotionaler Abgründe bemalt.
Diese Review erschien zuerst im Musikexpress 09/2025.


