David Bowie
I CAN’T GIVE EVERYTHING AWAY (2002-2016)
Warner (VÖ: 12.9.)
Größtes Finale im Art-Rock: Das LOW-Genie verlässt uns auf einem High.
Zunächst mag es befremdlich wirken: Wie wollen 13 CDs oder 18 LPs mit Material aus einem 14-jährigen Zeitraum gefüllt werden, in dem David Bowie für fast zehn Jahre wie vom Erdboden verschluckt war? Tatsächlich machen Studioalben weniger als ein Drittel des Inhalts aus. Aber die haben’s in sich: Gleich mit dem flirrenden „Sunday“ und dem knarzigen Pixies-Cover „Cactus“ vertrieb er 2002 auf HEATHEN die Ängste, er würde es sich seit dem langweiligen Vorgänger HOURS in einem saturierten Spätwerk bequem machen. HEATHEN kann es stellenweise („Slow Burn“, dessen Zeile „At the centre of it all“ ein paar Discs weiter auf dem gewaltigen Opus „Blackstar“ nachhallt) mit den atmosphärischen Meisterwerken der Berlin-Trilogie aufnehmen.
Das nur etwas mehr als ein Jahr darauf nachgeschobene REALITY ist das Pop-Äquivalent dazu: Statt dem staatsmännischen Grau von HEATHEN dominieren nun knallige Farben und der Künstler selbst als Anime-Comicfigur auf dem Cover. „New Killer Star“ war der einigermaßen geglückte Versuch, noch mal einen gitarrenbasierten Radiohit zu landen. Auf der B-Seite coverte er „Love Missile F1-11“, den von Giorgio Moroder produzierten Glückstreffer des talentlosen 80er-Hypes Sigue Sigue Sputnik. Unterlegt von der Nachfolge-Single „Never Get Old“ stattete er bestens gelaunt seinen abgelegten Kunstfiguren einen Besuch in einer Mineralwasserwerbung ab. Einmal noch wollte er als strahlender Popstar für die Massen gesehen werden.
Wie eh und je die Zeichen der Zeit studierend, veröffentlichte er 2004 ein Mash-up aus dem Stück mit seiner Glam-Hymne „Rebel Rebel“ als „Rebel Never Gets Old“, bevor er sich für fast ein Jahrzehnt zurückzog. Es folgten die Livealben LIVE SANTA MONICA ’72, das bereits dem ersten Eintrag dieser Boxset-Reihe, FIVE YEARS, beilag, VH 1 STORYTELLERS, das es vermutlich aus Lizenzgründen nicht in die aktuelle Auswahl geschafft hat, dafür aber A REALITY TOUR, in dessen Tracklist nun auch die beim ursprünglichen CD-Release 2010 lediglich als Bonus-Tracks angehängten Stücke „Fall Dog Bombs The Moon“, „Breaking Glass“ und „China Girl“ eingearbeitet wurden.
Genie, geh nie!
Drei Jahre darauf das Comeback des Jahrzehnts in Form von Bowies 25. Studioalbum THE NEXT DAY, dessen schiere Existenz aber den Inhalt überragte. Die Platte wirkt überfrachtet und zu oft orientierungslos. 14 Songs nach so langer Auszeit sind theoretisch zwar nicht zu viel, praktisch in diesem Fall aber doch. Dazu kamen vier weitere Nummern auf Deluxe Editions, sowie sechs zusätzliche auf der „The Next Day Extra“-EP. Nichts wies auf die nächste Großtat hin: BLACKSTAR, dramatisch veröffentlicht an Bowies 69. Geburtstag und zwei Tage vor seinem Tod. Ein nahezu mythisches Abschiedswerk, eine Entführung in eine dunkle Jazz-Hölle, ein Art-Rock-Oratorium zwischen Roxy-Night und zeitgenössischem Sax-Jazz. Im fast zehnminütigen Titeltrack verwebt Bowie Tod und Transzendenz zu einer höchst anspruchsvollen Ästhetik, die zwischen Frieden und kalkulierter Verstörung pendelt. Der Titel des Abschlusssongs ist, wie immer in dieser Serie, perfekt gewählt als Name des Boxsets.
Ich kann euch doch nicht alles verraten! Am spannendsten ist aber der bisher unveröffentlichte Mitschnitt vom Konzert am 18. Juli 2002, MONTREUX JAZZ FESTIVAL. Unter den 31 Songs befindet sich fast das ganze Album LOW. Bowie dagegen beendete seine beispiellose Karriere auf einem High. Genie, geh nie!
Diese Review erschien zuerst im Musikexpress 10/2025.


