Patti Smith: Die Totentänzerin des Rock
Als der Rock’n’Roll im Sterben lag, entfachte Patti Smiths Fusion aus Musik und Lyrik das Feuer neu.
In einem der größten Momente ihres Lebens sang Patti Smith das Lied eines anderen, und dann auch noch falsch. Es ist der 10. Dezember 2016. Bob Dylan soll den Nobelpreis für Literatur erhalten, aber er schwänzt, ewig im Clinch mit dem Mainstream, seine eigene Party. Also muss Smith es richten: Mit ihren grauen Haaren steht sie vor dem Publikum, hebt an zum Standard „A Hard Rain’s A-Gonna Fall“. Nimmt Dylan den Song aus den Händen und formt ihn zu einer berührenden Neufassung. Dann passiert was Irres: Patti Smith vergisst den Text. „Ich entschuldige mich“, sagt Smith und lächelt scheu, „ich bin so aufgeregt.“ Bei einer Gala, für die sich Dylan zu fein gewesen war, versagt Smith, dieser verdammten Legende, vor Aufregung die Stimme. Der Saal klatscht. Und Patti Smith hat es mal wieder geschafft: die Coolness-Regeln des Rock’n’Roll zu unterlaufen, gegen alle Codices zu verstoßen – und gerade deshalb alles richtig zu machen.
Patti Smith kam aus dem Nichts und erfand sich selbst: als Erbin der Beat-Poeten im New York der Post-Hippie-Ära. Smith, das Mädchen aus der Working Class, fühlte sich den Pariser Dichtern des 19. Jahrhunderts näher als den saturierten Muckern, die in den Siebzigern die Radios regierten. Gerade, als die revolutionäre Kraft des Rock’n’Roll verebbt schien, rettete Smith ihm mit ihrer furiosen Fusion aus Lyrik und Jams den Arsch. Aber bevor es so weit kommt, muss Smith erst einmal ihre Kindheit überleben. Asiatische Grippe, Tuberkulose und Pfeifersches Drüsenfieber nagen am dürren Leib des Nachkriegskindes Patricia Lee. Geboren 1946, verbringt Smith ihre Kindheit vor allem in New Jersey, in einer Gegend voller Sümpfe, wo man die Siedlungen für die Armen baute. Der Vater ist Fabrikarbeiter, die Mutter Kellnerin und träumt davon, im Lotto zu gewinnen, kauft aber nie einen Schein. Smith und ihre Geschwister wachsen als Zeugen Jehovas auf. In Gottesfurcht und Armut, aber, wie Smith sagt, trotzdem glücklich. Patti, das wilde Kind mit seinem geklauten Rimbaud-Bändchen in der Tasche, träumt sich weg aus der Waschküche der Eltern, in der sie als Jugendliche lebt. Ihr College-Studium finanziert sie sich mit Akkordarbeit. Dann der Teenager-Albtraum: Mit 19 wird Smith ungeplant schwanger. Sie entscheidet sich, das Kind zur Adoption freizugeben. Es waren die Sechziger vor der Zeitenwende, Patti Smith fliegt für eine Verhütungspanne vom College. 1967 geht sie nach New York City, um Künstlerin zu werden.
In ihrem Memoir „Just Kids“ zeichnet Smith das Manhattan jener Zeit als eine Art Montmartre der Rock’n’Roll-Ära: ein Kosmos der Freaks und Künstler, der Junkies und Vagabunden, die in schlimmen Schimmelbuden hausen. William S. Burroughs und Bob Dylan geistern durch die Straßen und Träume der Kids, während die schönen Kaputten an der Pforte von Andy Warhols Factory um Einlass betteln. In einer Buchhandlung lernt Patti Smith den Mann kennen, der erst ihr Liebhaber wird, dann ihr Freund, aber immer, so sagt sie, der „Künstler ihres Lebens“ bleiben soll: Robert Mapplethorpe. Wie er da steht, dieser Junge aus katholischem Hause, mit seinen Locken und voll auf LSD, weiß er noch nicht, dass seine Polaroids von Rockstars und schwulem Fetisch-Sex später die Kunstwelt begeistern und entsetzen sollen.
Smith und Mapplethorpe werden ein Paar. „I’m waiting for my man, twenty-six dollars in my hand“, singt Lou Reed – die Liebenden in ihrer Pärchenhöhle können sich nicht mal Käsetoast leisten. Smith arbeitet als Verkäuferin, Mapplethorpe verdient sein Geld mal als Kartenabreißer, mal als Sexarbeiter. Obwohl das Elend um jede Ecke lugt, machen sich die beiden zu denen, die sie werden wollen: Sie drückt ihm ihre Kamera in die Hand, er ermutigt sie zum Singen. „I’m so goddamn young“, singt Smith klagend in ihrem Song „Privilege (Set Me Free)“: Sie weiß, wie sich Wachstumsschmerzen anfühlen. Wie geil und ungerecht es ist, gottverdammt jung zu sein.
Als Smith und Mapplethorpe ganz unten sind, pleite und krank, bringt ihnen ein Morphiumsüchtiger die rettende Botschaft: Im Chelsea Hotel akzeptiere man Kunst als Mietanzahlung. Die beiden steigen ab in der sagenumrankten Künstlerherberge, einem, wie Smith schreibt, „Puppenhaus in der Twilight Zone“, durch das Salvador Dalí, Jefferson Airplane und Janis Joplin stolzieren, Kunstwesen mit Tollkirschenaugen. Später wird Smith sagen, das Chelsea sei ihre Universität gewesen. Das Träumerle Patricia verwandelt sich in eine androgyne Szene-Berühmtheit, bleibt zum Rockzirkus aber auf Abstand.
Im Laufe der frühen Siebziger macht sich Smith einen Namen als Lyrikerin. Mit ihren Gedichten tritt sie tapfer im Vorprogramm der New York Dolls auf – aber versteht bald, dass sie ihre Werke vertonen muss, um die Leute zu erreichen. Also fragt sie Lenny Kaye, den genialen Rockjournalisten, ob er einen Autounfall auf der Gitarre spielen könnte. Kaye sagt ja. In Jimi Hendrix’ Electric Lady Studios nimmt Smith ihre erste Single „Piss Factory“ auf und verkauft sie für einen Dollar im Central Park. Während sie sich in Läden wie dem CBGB und dem Max’s Kansas City ersten Ruhm erspielt; während Freunde am Exzess sterben, ändert sich Smiths Verhältnis zu Mapplethorpe. Die Beziehung endet nicht mit einem Knall; sie materialisiert sich neu. Ein klassisches Paar sind sie nur für kurze Zeit. „Wenn du mich verlässt, werde ich schwul“, hatte er ihr anfangs noch gedroht. Als ihr klar wird, dass er das eh ist, beginnt auch sie Beziehungen – mit Künstlern wie Sam Shepard, Tom Verlaine und Allen Lanier von Blue Öyster Cult. Lanier wird an der Platte mitwirken, die Smith endgültig groß macht: HORSES.
Das Team: Patti und ihre Band, bestehend aus Lenny Kaye, Richard Sohl, Ivan Kral und Jay Dee Daugherty. Als Produzenten hat Smith sich John Cale ausgesucht – und wird ihn bald ein bisschen hassen. Denn Cale hat auch eine andere Idee vom Sound der Platte als Smith. Später gibt sie zu, Cale im Studio irre gemacht zu haben, aber der Kraftakt sollte sich auszahlen. Schon der Opener „Gloria“ ist kein Cover, sondern eine Kernfusion. Der brünftige Garage-Klassiker von Van Morrisons Them trifft auf Smiths eigenes Gedicht „Oath“, das mit den magischen Worten beginnt: „Jesus died for somebody’s sins but not mine.“
Smith ringt sich den Satz ab, als sei sie tausend Jahre alt, getragen und gepresst; dann fällt sie ins Schlendertempo, lässt die Musik Fahrt aufnehmen, ganz so, als gerate die Band im Takt der Poetin in Ekstase, um schließlich im Refrain die Last der Vergangenheit abzuwerfen: Gloria, G-L-O-R-I-A! Eine Vokalistin wie Smith hatte es nie gegeben – eine, die ihre Lyrik-Raps in Wehklage dehnen oder aggressiv stoßhecheln kann; ihre Zeilen kehlig singt oder gallebitter ausrotzt, überheblich wie die Jugend selbst. Und die einem vom Coverfoto des Albums, geschossen von Mapplethorpe, in die Seele zu gucken scheint. Patti im weißen Hemd von der Heilsarmee, zart und unerbittlich, mit wirrem Haar und von einer spröden, unerhörten Lässigkeit – eine Mona Lisa der Rock-Ikonografie, zugleich Rätsel und Lösung für alle Underdogs auf Suche nach der richtigen Attitüde.
Die Erzählung von der „Godmother of Punk“ klebt Smith wie Kaugummi am Schnürschuh. Dabei haben die Neunminuten-Jams auf HORSES ebenso wenig mit dem Hit’n’Run-Rock der Ramones zu tun wie Smiths weihevoller Habitus mit dem Weltekel der Sex Pistols. Smith war eher später Beatnik als früher Punk, wollte nichts kaputt hauen, sondern „das geschriebene Wort mit der Unmittelbarkeit des Rock’n’Roll aufladen – ein Frontalangriff“, wie sie selbst schrieb. Rock’n’Rimbaud.
Und doch rollte Smith dem Punk mit HORSES den Teppich aus. „Auf dem Cover inszenierte sie sich halb männlich, halb weiblich. Ich dachte sofort, genauso fühle ich mich auch“, schreibt Viv Albertine, Gitarristin der Punkband The Slits, in ihrer Autobiografie „A Typical Girl“. „Patti klang so freizügig und selbstbestimmt wie keine zuvor. Damals sollten Mädchen beim Sex keinen Mucks machen, über Menstruation schweigen. Und sie schrie es einfach raus.“
Obwohl Smith keine Frauen küsste, verkörperte sie eine Queerness, die neu war im Rock. Die Dichterin im Gentleman-Look singt den Lesben und Schwulen am New Yorker Redondo Beach eine Moritat zum Reggae-Beat, spielt mit der Lesart, ihr Reim auf „Gloria“ sei ein Manifest der Frauenliebe. Der homosexuelle Dichter Allen Ginsberg lud die junge Patti einst zum Essen ein, weil er sie für einen Kerl hielt. Smith war hart und leidenschaftlich, machte Sentimentalität zur künstlerischen Strategie – und etablierte eine Form von Coolness, die mit der koksnasigen Selbstgewissheit vieler männlicher Rockstars nichts gemein hatte. Es wäre sicher eine Frechheit, Smiths Schaffen in der zweiten Hälfte der Siebziger als Appendix zu HORSES zu bezeichnen. Aber sie selbst behauptete später, nach dem Urknall von 1975 ihr Hauptwerk verrichtet zu haben. „Wir mussten Platz für die neue Garde machen“, sagte Smith in einem Interview von 2005 über die Zeit nach HORSES. „Die kam schneller als gedacht, und als sie dann da war, sind meine Leute und ich plötzlich überflüssig gewesen. Aber man wollte, dass ich noch mehr Platten machte, also nahm ich welche auf.“
Tatsächlich kehrt sie nie zum suchenden, tastenden Sound von HORSES zurück. Alben wie der Nachfolger RADIO ETHIOPIA lassen ahnen, was sie meint, wenn sie von ihrer Band als „letzte Gruppe der Sixties“ spricht. Und doch tut sie alles, um ihre Mainstreamwerdung zu sabotieren: Mit „Because The Night“, das sie mit Bruce Springsteen schreibt, gelingt Smith 1978 ihr größter Singlehit. Aber das dazugehörige Album EASTER wollten viele Läden in den USA nicht verkaufen – weil Smith ihr mächtiges Achselhaar auf dem Cover nicht retuschieren ließ.
Trotzdem war Patti Smith 1979 ein Rockstar geworden. Den Teens in der BRD bleibt der Mund offen stehen, als sie Smiths verstrahlten Auftritt im „Rockpalast“ sehen. In der Essener Grugahalle trägt sie ein Fan-Shirt der Rockband MC5. Nicht ohne Grund: Smith hatte sich in Fred „Sonic“ Smith verliebt, den Gitarristen der Gruppe. Auf ihrem Album WAVE singt sie ihm schwer verliebt das Loblied „Frederick“. Und tut dann das Letzte, das die Welt von ihr erwartet hätte: Am 10. September 1979 spielt sie in Florenz ein Konzert vor mehr als 70.000 Fans – dann tritt sie ab. Smith heiratet Fred Smith und zieht zu ihm in die Suburbs von Detroit. Wird Hausfrau, bekommt ihre Kinder Jackson und Jesse Paris. Die Plattenfirma soll ausgerastet sein.
In ihrem Erinnerungsbuch „M Train“ gedenkt Patti im New York der Gegenwart zärtlich ihrer Zeit mit Fred Smith. Ihren Mann porträtiert sie als Liebenden, der ihren Hang zur romantischen Geste teilt. Ende der Achtziger nimmt das Paar Patti Smiths Album DREAM OF LIFE auf, ein Yoko-und-John-Projekt mit der Erbauungshymne „People Have The Power“. Die Journalistin Patricia Morrisroe erzählt eine andere Version der Geschichte: In ihrer Biografie Robert Mapplethorpes beschreibt sie, wie Fred Smith seine Frau von der Öffentlichkeit abgeschottet habe.
Man wird ihn nicht mehr fragen können. 1994 stirbt der Mann, über den Patti Smith den schönsten aller Sätze schreibt: „Er war ein König unter den Menschen.“ Wenig später verliert Smith ihren Bruder – und den Boden unter den Füßen. Aber dann beginnt das Telefon, das lange still gestanden haben soll, wieder zu klingeln. Auch Michael Stipe meldet sich bei Smith: Zusammen nehmen sie den R.E.M.-Song „E-Bow The Letter“ auf.
Während Patti Smith mit Alben wie GONE AGAIN und GUNG HO die Spätphase ihrer Karriere einläutet, 2007 schließlich in die Rock’n’Roll Hall of Fame aufgenommen wird, verschwindet die Welt, die sie hervorgebracht hat. Ihr Lieblingscafé in New York schließt. Mapplethorpe war schon 1989 an Aids gestorben, Smiths langjähriger Keyboarder Richard Sohl ein Jahr später. Allen Ginsberg und William S. Burroughs, in den Smith einst furchtbar verliebt war, Allen Lanier und Sam Shepard: alle tot. Patti Smiths Leben ist eine große Übung im Gehenlassen. Sie ist noch da. Wohl deshalb hat die späte Smith, je nach Lichteinfall, etwas Priesterhaftes oder Schamanisches. Smith ist eine Gläubige ohne Konfession, anfällig für Esoterik und Peace-Rhetorik. Schon zu Chelsea-Hotel-Zeiten legte Smith Tarot-Karten. Als 1995 im Berliner Tempodrom die „Friedensuniversität“ tagte, eine Art Erleuchtungs-Workshop für Heilsuchende, saß Smith auf dem Podium, an der Seite des Dalai Lama.
Heute gedenkt sie bei ihren Auftritten mit weiten Armen der Toten: Christoph Schlingensief und Ornette Coleman, Amy Winehouse und Shirley Temple, keine:r wird vergessen. In der dauerironischen Postmoderne ist die alte Seele Patti Smith nie angekommen; bei ihren Konzerten zelebriert sie eine Form des Erinnern- und Fühlenwollens, die heute völlig aus der Zeit gefallen scheint.
Ihr ganzes Leben lang betont Patti Smith, dass sich ihr Schaffen aus der Kunst ihrer kreativen Ahnen speist, von Albert Camus bis zur französischen Autorin Albertine Sarrazin. Die Toten scheint sie ebenso so sehr zu ehren wie die Lebenden – und umgekehrt. „William Blake ist mir nicht wichtiger als Johnny Depp“, sagte Smith mal im Interview. Ihr, der Totentänzerin, wünscht man, dass sie nicht alle Weggefährten überlebt. Solange er noch schreiben mag, sollte Bob Dylan zu schreiben beginnen: Die Welt schuldet Patti Smith eine Hommage.



