gedanken zum gegenwärtig*innen: Über Lorde, Sophie Passmann & Skimming
Was passiert? Und wie und warum hängt das alles zusammen? Hier die neue Kolumne von Julia Friese lesen.
Drei Beobachtungen:
1. was war das / ist das echt
Unsere Wahrnehmung von dem, was „real“ und was möglich ist, wird beinahe jeden Tag herausgefordert. Ganz simple Sachen, die wir für selbstverständlich nahmen, sind es nicht: Ein designierter Kanzler muss nicht im ersten Wahlgang gewählt werden, der durchschnittliche Ticketpreis für ein Lady-Gaga-Konzert kann über 600 Dollar liegen. Alles Unmögliche ist heute möglich. Ja, Julia Engelmann kann bei Diogenes debütieren. Ja, die AfD kann vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft werden – und die Menschen fragen sich dennoch: Ist das echt? Jia Tolentino schreibt im „New Yorker“ es sei, „als ob die Realität unleserlich würde, als ob die Sprache ein Gefäß mit Löchern im Boden wäre und der Sinn auf dem Boden ausläuft“. Der Newsfeed ihres Handys gebe ihr das Gefühl „flach auf das Brett einer unwirklichen Gegenwart geschnallt zu sein“.
2. die jan-böhmermann-und-lorde-ästhetik
Eigentlich selbstverständlich, dass unter diesen Umständen eine Ästhetik interessant wird, die nicht modifiziert scheint. Der Vlog-Stil, also das scheinbar beiläufige Mitfilmen von Alltag, prägt Lordes Musikvideo zu „What Was That?“ – zu Deutsch: Was war das?
Man sieht sie unterwegs in New York, rennend und Fahrrad fahrend hin zu ihrem Guerilla-Konzert im Washington Square Park. Es ist ein Video ohne Weichzeichner und künstliches Licht und beides fällt auf. Da ist Lordes echte Haut. Da sind Farben, die kalt, karg, real und damit seltsam wohltuend wirken. Auch wenn ihre Fahrt an sich, inklusive des Wegwerfens von Apple-Airpod-Max-Kophörern in einen zufällig neben einem nicht angeketteten Fahrrad abgestellten Mülleimer, natürlich fingiert ist.
Das Musikvideo erinnert an ein nur wenige Tage älteres Video, eine Ausgabe des „Neo Magazins“, in der Jan Böhmermann mit einem E-Scooter von Köln nach Chemnitz fährt. Auch hier wird ausnahmsweise im Vlog-Stil erzählt.
Er unternehme diese Tour, „weil man ja nur noch zu Hause vor dem Computer sitze“. Gegen seine virtuelle Annahme von Wirklichkeit wolle er „anarbeiten“. 30 Minuten kann man dieser so unspektakulären wie mehrtägigen Fahrt mit dem E-Roller folgen. Sowohl er als auch Lorde beenden ihre „real life“-Videos mit ihrem Publikum. Böhmermann trifft am Chemnitzer Karl-Marx-Monument auf seine Fans, Lorde im Washington Square Park.
3. to skim: absahnen, überfliegen, oberflächlich behandeln
Die Schriftstellerin Ulrike Schrimpf schreibt im „Freitag“, dass Lesen mit Lesekompetenz nicht mehr der Default-Modus der Gegenwart wäre, da man durch das digitale Überangebot eher alles „skimme“ – also überfliege. Skimming ist es wohl auch, wenn man eine Sprachnachricht auf doppelter Geschwindigkeit anhört. Und eine Sprachnachricht ist wiederum der neue Podcast von Sophie Passmann, der – wie alle Podcasts, die aktuell mit Budget entstehen – eine Studio-Kulisse hat, um auch als Video konsumierbar zu sein.
„Der Sophie Passmann Podcast“ erinnert an „Sarah Kuttner – Die Show“, die 2004 bis 2006 mit The-Band-Auftritten und Sternchen-Tattoos den Zeitgeist spiegelte. Kuttner saß wie Passmann an einem Late-Night-Schreibtisch. Das männliche Genre wurde durch weibliches, assoziatives über Popkultur Reden gebrochen. Anders als Kuttner redet Passmann heute aber nicht über ihre Gäste hinweg. Es gibt sie schlicht nicht mehr. Passmanns Sidekick heißt auch nicht Sven Schuhmacher, sondern ChatGPT.
Wenn wir jetzt also noch mal 20 Jahre in die Zukunft skimmen, wie wird dieses Format aus Schreibtisch und weiblicher Popkultur-Persönlichkeit dann aussehen? Was lässt sich noch wegrationalisieren? Der Schreibtisch scheint gesetzt. Wird die Moderatorin eine KI sein? Und das Publikum? Wird es weniger werden, in dem Sinne, als das jede:r sich eine eigene Personality-Sendung prompten wird? Ist diese Zukunft wirklich noch zwanzig Jahre entfernt? Selbstverständlich nicht.
Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 7/2025.



