Lord Huron im Interview: Künstlerische Unabhängigkeit, Identität & das neue Album
Ein Gespräch mit Ben Schneider über Identität, Parallel-Leben und die großen Lebensfragen.
Vor zehn Jahren veröffentlichten Lord Huron mit „The Night We Met“ ein Lied, das ihr Leben veränderte. Fast drei Milliarden Streams später zählt der Song zu den erfolgreichsten Indie-Folk-Tracks des Jahrzehnts – und schenkte der Band etwas, das wertvoller ist als jeder Chartserfolg: künstlerische Unabhängigkeit. Auf ihrem neuen Album THE COSMIC SELECTOR VOL.1 (VÖ: 18. Juli 2025) nutzten sie diese Freiheit und schafften eine Platte, die in der Band-Historie wohl die persönlichste ist.
Wir trafen Ben Schneider, den Kopf und Frontmann von Lord Huron, vor ihrem Auftritt am 8. September im Berliner Tempodrom. Ein Gespräch über Identität, Parallel-Leben und die großen Lebensfragen.
Das sind Lord Huron
„Wer war ich, als ich vor 15 Jahren angefangen habe, Musik zu machen? Wie viele Ichs bin ich seitdem gewesen?“. Das fragt sich Ben Schneider, Sänger, Songwriter und Gründer der Band Lord Huron. 2010 startete der heute 40-Jährige das Musikprojekt, das ursprünglich als Solokarriere gedacht war. Im Jahr darauf aber holte er sich seine Kindheitsfreunde – Mark Barry, Miguel Briseño und Tom Renaud – als neue Bandkollegen dazu. 2012 brachten sie dann ihr erstes Studioalbum LONESOME DREAMS heraus. Ihr Sound ist seit jeher von Mundharmonika und Western-Gitarrenriffs geprägt, die den sehnsüchtigen, aber hoffnungsschöpfenden Texten die für Lord Huron charaktergebende mystische Atmosphäre verleihen.
Der Song, der alles eröffnete
Ihren Durchbruch schafften die Band 2015 mit „The Night We Met“ – nicht zuletzt durch die Netflix-Serie „13 Reasons Why“. Heute gilt das tragisch-schöne Liebeslied als Klassiker des Indie, und die Band zählt zu unverkennbaren Akteuren des Folklore-Genres. Während Schneider den Track noch immer sehr zu schätzen weiß, hat er für ihn mittlerweile vor allem eine praktische Bedeutung: „Der Song ermöglichte uns, eine Basis zu schaffen, mehr Menschen zu erreichen und heute weiterhin das machen zu können, wonach uns ist“, sagt er.
Während andere Künstler:innen womöglich versuchen würden, einem Erfolg dieser Größenordnung hinterherzujagen, sehen Lord Huron „The Night We Met“ nicht als Verpflichtung, noch einen Hit zu landen, sondern als eine Art Freifahrtschein für musikalische Abenteuer.
Bis heute zählt der Song mit seinen knapp drei Milliarden Klicks zu den am meisten gespielten Songs auf Spotify — und nur um das mal in Relation zu setzen: Auf der Welt leben ca. acht Milliarden Menschen. Verwunderlich also, dass Ben Schneider noch immer überrascht ist, wenn Fans außerhalb der USA wissen, wer sie sind, geschweige denn auch nur eine Zeile der Lieder mitsingen können. „Es ist so ein kompliziertes Business. Dass wir überhaupt schon seit so langer Zeit Musik machen können, ist etwas, für das ich sehr dankbar bin. Und wenn ich dann noch sehe, dass Fans auf der anderen Seite der Welt unsere Texte kennen, dann berührt mich das sehr“, erklärt der Musiker.
Seit dem Erscheinen ihres fünften Studioalbums THE COSMIC SELECTOR VOL.1 ist die Band auf Tour, derzeit spielen sie ihre Europa-Shows, bevor es wieder zurück in die USA geht. „Die Konzerte in Deutschland sind immer etwas Besonderes. Ich habe das Gefühl, hier mag man uns“, gesteht Schneider lachend.
THE COSMIC SELECTOR VOL.1: Von Fiktion zu Introspektion
Dabei ist niemand so über diesen Umstand überrascht wie Ben Schneider selbst. Kritiker:innen schätzen Lord Huron für ihr immersives Storytelling und die Art, wie jede Tonabfolge, Melodie und jeder noch so einfache Klang tief im narrativen Konzept ihrer Alben verwurzelt sind. Jede Platte eröffnet ein eigenes Universum, bevölkert von Figuren wie etwa Tubbs Tarbell – einem fiktiven Gespenst und Radiomoderator, der 2021 das Konzeptalbum LONG LOST prägte.
Mit THE COSMIC SELECTOR VOL.1 schlagen sie jedoch eine etwas andere Richtung ein. Während Ben Schneider bisher aus den Perspektiven unterschiedlicher Charaktere sang, tritt er auf der neuen Platte selbst stärker in den Vordergrund. „Ich habe zum ersten Mal seit langer Zeit eine Pause eingelegt, um mein Leben ein bisschen zu betrachten. Und da wurde mir bewusst, wie weit wir eigentlich gekommen sind“, erklärt er.
Damit meint er nicht bloß den Erfolg der Band, sondern auch den Verlauf seines privaten Lebens. „Ich habe mich dabei gefragt, wie es anders hätte laufen können. Nicht, dass ich etwas bereuen würde, sondern eher aus Neugier: Welche kleinen Entscheidungen habe ich getroffen, die mich hierher geführt haben? Wer wäre ich geworden, hätte ich mich anders entschieden?“ Die Gedanken und Fragen, die er sich dabei gestellt hat, sind, wie er sagt, ziemlich direkt genau so auf dem Album gelandet.
Eine Jukebox, zwölf Parallelwelten
Die kosmische Jukebox stellt das dramaturgische Konzept von THE COSMIC SELECTOR VOL.1 dar und führt den Musiker, und damit auch seine Hörer:innen, durch unterschiedliche Parallel-Leben. Dabei teilt sich sein Blick: Einerseits schaut er zurück zu den Gespenstern der Vergangenheit, gleichzeitig aber richten sich seine Augen nach oben, in das scheinbar unermessliche Nichts des Universums. Jeder der zwölf Songs stellt die Konsequenz einer anders getroffenen Entscheidung dar. Im Kern sind sie aber alle verbunden durch die drängende Frage, die sich vermutlich jede:r schon einmal gestellt hat: Was wäre wenn?
THE COSMIC SELECTOR VOL.1 wirkt wie eine spiritueller Marsch durch karge, grenzenlose Landschaften, unter deren Himmel man sich erst verlieren muss, um sich selbst zu finden. Oder, um es in Schneiders Worten zu formulieren: „Das Album befasst sich mit dem unendlichen Raum außerhalb von uns selbst, aber auch mit dem unendlichen Raum innerhalb unserer Welt. Man könnte sich für immer für beides entscheiden.“ Auf dem Album kann man sie hören, die Sehnsucht nach Antworten, die irgendwie ja doch alle in der Vergangenheit zu liegen scheinen. „Letztendlich ist sie unser einziger Referenzpunkt, wenn es um Fragen an die Zukunft geht“, erklärt der Frontmann.
Schneiders Songwriting: Zwischen Poetik und Philosophie
Vor diesem Hintergrund bemerkt man auch den sanften Stimmungswechsel, den die neue Platte mit sich bringt: THE COSMIC SELECTOR VOL.1 klingt mystisch, moody und irgendwie ernster als die vorigen, ohne dabei an ihrem typisch verträumten Western-Charakter einzubüßen. „Watch Me Go“ etwa behandelt den Moment, in dem man eine Entscheidung trifft, von der man weiß, dass man sie später bereuen wird. Der Text ist ernst und beunruhigend nahbar, doch Schneiders trügerisch beschwingte Gesangsmelodie lässt einen die Ungemütlichkeit dahinter vergessen und den Moment genießen.
Ein stilistisch gegensätzliches Stück ist „Who Laughs Last“. Dort vereint der Songwriter die Hektik unserer Welt mit einem dystopischen Innenleben, dass durch die schiere Endlosigkeit der Entscheidungsmöglichkeiten umzingelt zu sein scheint. In der Single spricht Schauspielerin Kristen Stewart bildhafte Zeilen über schneidende Gitarrenriffs und treibende Basslinien, das Stimmungsbild wird vollkommen klar. So heißt es etwa: „Über mir leuchtete eine erschreckende Anzahl von Sternen, die die kalte Gleichgültigkeit des Universums zum Ausdruck brachten.“ Sinnlosigkeit und Sinnhaftigkeit in einem — ein Testament an Schneiders Songwriting.
Die Mission
THE COSMIC SELECTOR VOL.1 erforscht die Ungewissheit der menschlichen Existenz und schafft dabei einen 49 minütigen musikalischen Referenzraum an Parallelwelten, voller Hoffnung und Tragik — wie das Leben selbst nun mal auch. Zum Ende des Albums konkludiert der Musiker seine kosmische Reise in „Life is Strange“ mit: „Das Leben ist seltsam, und ich bin es auch. / Ich kann nicht ändern, wer ich bin, und ich will es auch nicht“. Er mag zwar keine Antworten auf seine Fragen gefunden zu haben, doch darum geht es wohl auch nicht. Der Appell scheint zu sein: Neugierig bleiben, sich nicht von der schieren Endlosigkeit an Möglichkeiten einschüchtern lassen.
Lord Huron können diese Mission dank „The Night We Met“ ausleben und bieten ihren Fans mit ihrem neuen Album einen ermutigenden, authentischen Soundtrack für die unbequemen Fragen des Lebens. Ob es ein Vol.2 des Albums geben wird, steht noch in den Sternen, doch Schneider meinte mit einem Zwinkern er wolle „nichts ausschließen“.



