Interview

Jehnny Beth im ME-Gespräch: „Die Welt ist ein einziger Herzensbrecher“

Ein Gespräch mit einer, die sich nur zu gerne in die Kunst des Liebens stürzt und nie zynisch wird.

Jehnny Beth ist so was von bereit dafür, jeden Tag ihres Lebens komplett der Kreativität zu widmen. Erst mit John & Jehn, dann mit der großartigen Female-Band Savages, danach solo, mit einer Platte mit Bobby Gillespie, einigen Filmen (u.a. „Anatomie eines Falls“), Kurzgeschichten, TV- und Radio-Host-Jobs und jetzt wieder solo: In alles gießt sie ihr Herzblut so lange rein, bis sie sich gesehen fühlt oder etwas sichtbar machen kann.

ME: Fühlst du dich gerade mehr der Realität oder dem Eskapismus verbunden?

JEHNNY BETH: Ganz klar mit der Realität. Ich habe das Wort Eskapismus noch nie wirklich gemocht. Es fühlt sich an, als ob es der Kunst oder den Artists die Verbindung zu dem, was in der Welt passiert, völlig entzieht. Aber das ist doch unmöglich. Man hat schließlich als Künstler:in eine echte Verantwortung für die Zuhörenden. Ein guter Freund von mir sagte neulich mal, dass schlechte Musik zu Faschismus führen kann. Und ja, ich glaube schon, dass Manipulation durch Songs möglich ist und man sich dessen bewusst sein sollte. Musik kann Spaß machen, Energie geben, sie kann sich dich frei fühlen lassen – oder sie kann eben auch das Gegenteil bewirken. So oder so macht sie ganz real etwas mit dir – und das nur, weil Artists mit den Menschen, die das Endresultat hören, eine Verbindung haben. Sie sind also ganz sicher keine Eskapist:innen.

Musik schafft also ein Gespräch?

Ja schon. Zuerst über das, was man als Künstler:in in die Welt hinausgibt und dann dazu, wie es auf die unterschiedlichste Weise aufgenommen wird. Es ist ein ständiges Hin und Her und bleibt nie eindimensional. Ich muss mir also bewusst machen: Ich habe keine Kontrolle über die Art der Konversation, aber ich will sie führen.

Wie bleibst du offen für den Austausch?

Das schaffe ich allein schon durch die 20 Jahre andauernde, sehr kreative Beziehung mit Johnny Hostile (Anm. d. Redaktion: ihr Partner und Produzent). Wir überlegen uns dafür ziemlich genau und lange, wie wir jedes Mal anders an unser Schaffen herangehen wollen. Wie wir uns von der Welt inspirieren, aber nicht von ihr beeinflussen oder ablenken lassen wollen. Jetzt war mir vor allem mit YOU HEARTBREAKER, YOU ein Album wichtig, das Einheit, Dringlichkeit, Direktheit und Stärke ausstrahlt. Und bei der Arbeit daran habe ich gelernt: Der kreative Austausch ist viel besser für mich, als sich einfach nur okay zu fühlen. Und diese Art von Austausch ist auch mein Job. Deshalb priorisiere ich das auch jeden Tag und lasse viel Raum dafür. Damit gehen Opfer einher, die nicht alle bringen wollen.

Was meinst du damit konkret?

Manche Menschen sind nicht bereit dafür, sich weniger um ihre Familie zu kümmern, weniger Geld zu verdienen oder erst gar keine Kinder zu haben, weißt du? Diese Lebensweise hat seinen Preis, wie alles im Leben. Aber den Preis will ich gerne zahlen, denn es macht mir unfassbar viel Spaß, so meine Zeit zu verbringen. Wenn der Fun nicht mehr gegeben wäre, würde ich sofort mit allem aufhören – ohne eine Sekunde zu zögern.

Wäre es nicht eine gute Sache, wenn man einfach aufhören könnte, sich das Herz brechen zu lassen?

Ach, nein. Die Welt ist ein einziger Herzensbrecher. Menschen, die du liebst, werden dir das Herz brechen, weil du Menschen nicht kontrollieren kannst. Die Welt wird sich nicht an die von dir gesetzten Regeln halten, nur um dich auch mal zufriedenzustellen. Du wirst ständig Dinge sehen, die gegen das sind, woran du glaubst und gegen das sind, was du sehen willst. Aber es ist doch so: Wenn du dazu fähig bist, dir immer wieder das Herz brechen zu lassen, heißt es auch, dass du in einer verrückten Gesellschaft noch zurechnungsfähig bist. Ich finde es also richtig schön, Liebeskummer zu haben.

Du wirkst überhaupt kein bisschen sentimental.

Ich blicke definitiv nicht in die Vergangenheit, darin sehe ich keinen Sinn. Für mich zählt nur das Gegenwärtige – im Jetzt bringe ich die beste Kunst heraus und nur hier kann ich auch eine richtige Verbindung zu anderen Menschen aufbauen. Das ist das Einzige, was ich habe und was mich auch weiterbringt, verstehst du?

Da bin ich noch unschlüssig. Und ein weiteres Fragezeichen für mich: Wieso klingt es bei dir eigentlich wie ein Jubel, wenn du in dem Stück „Reality“ singst „But no one ever loves me“, oder ist das nur mein Hörempfinden?

Oh, das finde ich aufregend, dass du es als Jubel empfindest. Bisher habe ich noch kein Feedback dieser Art dazu bekommen, aber ich mag deine Sicht darauf. Das macht es stark. Ich vergleiche „Reality“ gerne mit dem Song „No Pussy Blues“ von Grinderman. Es geht halt um eine Person, die keinen Sex abbekommt. Eine Person, die gefühlt anders ist als alle anderen. Und ja, ich komme mir die meiste Zeit so vor, als würde ich die Regeln nicht verstehen, nach denen die Welt zu funktionieren scheint. Aber es ist auch irgendwie okay so. Ich muss sie nicht verstehen. Ich mache einfach Musik. Das Weltgeschehen werde ich auf diese Weise nicht verändern, aber immerhin lerne ich immer wieder Leute kennen, die so ticken wie ich. Und auch wenn man sich manchmal so fühlt, als wäre man in der Minderheit, so glaube ich am Ende doch, dass es tatsächlich eine ganze Armee von uns gibt. Und das ist doch Grund zum Jubeln, oder?!

Weniger zum Jubeln zumute war dir sicherlich, als du im Juni 2020 dein Solo-Debütalbum TO LOVE IS TO LIVE herausgebracht hast – also mitten in der Corona-Pandemie. Viele Möglichkeiten, die Platte zu bewerben, fielen weg – wie zum Beispiel das Offensichtliche: Live-Shows. Bloß gut, dass du dann mit dem Schauspielern ein zweites, finanzielles Standbein hattest, oder wie war da der Ansatz?

Es war eine Überlebensstrategie. TO LOVE IS TO LIVE im Jahr 2020 zu veröffentlichen, erwies sich als ein finanzielles Desaster. Es wurde quasi aus dem Wohnzimmer heraus in die Welt gebracht und danach konnten nur zwei Konzerte gespielt werden. Es ging gar nichts mehr. Keine Tournee, nichts. Auf dem Höhepunkt der Investitionen wurde man also ausgebremst, was zu enormer Verschuldung führte. Das fühlte sich echt scheiße an, weil eine Menge Leute an einen geglaubt und Geld hineingebuttert haben, und dann ging es nicht so zu veröffentlichen wie angedacht und der Druck hielt an. Ich bin durch eine regelrechte Trauerphase gegangen und brauchte erst mal Abstand. Und zwar viel davon. Es war toll, dass sich dann die Schauspielerei von selbst anbot. Es war mein Weg, zu überleben. Zum einen auf finanzielle Weise, aber eben auch auf eine kreative. Ich konnte so mit unglaublichen Filmschaffenden zusammenarbeiten. Zum Beispiel mit Jacques Audiard, dessen Filme ich wirklich liebe. Die Arbeit vor der Kamera hat mich inspiriert und gefordert. Und ich war so gerührt, dass man mich dafür engagiert hatte. Es war für mich eine Chance, weiterhin etwas mit ganzem Herzen machen zu können. Und auch um die Trauer über TO LOVE IS TO LIVE zu bewältigen. Erst nach einigem Touren – mit Idles in Großbritannien, mit Depeche Mode in Europa und mit Queens of the Stone Age in den USA – bekam ich langsam wieder das Gefühl: Ja okay, ich weiß jetzt, welche Art von Album ich als Nächstes machen will. Es kann wieder losgehen.

Hast du das Gefühl, dass du nun in finanzieller Hinsicht sicher bist?

Nein, man weiß doch nie, wann das nächste Geld reinkommt. Aber zumindest bin ich jetzt noch vielseitiger in meiner Arbeit aufgestellt. Ich moderiere ja außerdem seit 2020 die Musik-TV-Show „Echoes“ für arte. Das hilft auch, um Rechnungen bezahlen zu können. Aber so schön das ist: Ich mache es trotzdem hauptsächlich, weil ich damit der Community etwas zurückgeben und die Gegenkultur im französischen und deutschen Fernsehen repräsentieren möchte. Sichtbarkeit finde ich letztlich wichtiger als Sicherheit. Denn Zweiteres ist eher was für Erwachsene.

Und du bist keine Erwachsene?

Ich hoffe nicht. Schon allein das Wort „erwachsen“ klingt für mich ganz schlecht. Damit möchte ich also lieber nicht in Verbindung gebracht werden.

Möchtest du als Allererstes mit deinen Alben oder mit deinen Live-Performances in Verbindung gebracht werden?

Unbedingt mit beidem gleichzeitig. Sorry, aber da will ich mich partout nicht entscheiden. Gerade TO LOVE IS TO LIVE ist mir so wichtig, es ist einfach meine beste Platte. In Bezug auf Sound, Stil und Technik ist es noch mal ein ganzer Schritt nach vorne, wenn ich es mit Savages vergleiche. Es repräsentiert auch perfekt, was Johnny Hostile und ich in der Zusammenarbeit erschaffen können. Ja und ein Konzert ist noch mal eine ganz andere, aber genauso essenzielle Sache für mich. Das Auftreten ist mein Zuhause. Es bringt mich immer ins Hier und Jetzt.

Kannst du das noch weiter ausführen?

Na, da fühle ich mich richtig gesehen. Wer mag das nicht? Ich bin einfach mit ganzem Herzen eine Performerin. Auf der Bühne kann ich die für mich höchste Form der Liebe erleben. Ich kann mich dort fallen lassen, nahbar machen und gleichzeitig auch scheitern, was eine Show dennoch besser macht. Es ist der Ort zum Experimentieren mit den unterschiedlichsten Formen des Austauschs. Deshalb mache ich mir genau Gedanken darüber, wie ich mich als Frontfrau darstelle. Welche Geste ich an welcher Stelle in einem Song mit meiner Hand mache zum Beispiel. Denn damit gebe ich meinen persönlichen Standpunkt zur Welt, meine politischen Ansichten, ja einfach alles wieder. Das bringt schon auch viel Verantwortung mit sich. Und Druck. Denn wenn ich merke, dass eine Bewegung von mir – um mal bei Gesten zu bleiben – nicht bei dem Publikum anzukommen scheint, dann justiere ich auch mal nach. Ich will sichergehen, dass ich das richtige Signal sende. Und ich verstehe auch gut, dass Rhian Teasdale von Wet Leg und Amy Taylor von Amyl And The Sniffers gerne mal Bodybuilder-Posen auf der Stage machen. Das hat Bedeutung. Ihre Körpersprache trägt eine Message in die Welt hinaus. Mimik und Gestik können nicht nur entertainen, sondern auch eine Menge über Frauen und über Körper und über unsere Gesellschaft aussagen.

Ein Albumtitel kann auch schon ein Statement für sich sein. In deinem Fall empfinde ich den Namen deines zweiten Soloalbums, YOU HEARTBREAKER, YOU, als sehr cheeky. Der Titel klingt nach einem Augenzwinkern.

Ja, einen Sinn für Humor zu haben, ist für mich sehr wichtig. Ich glaube schlichtweg nicht, dass ein Leben ohne ihn möglich ist. Deshalb wollte ich auch unbedingt, dass eine Art von Witz in den neuen Songs und in den visuellen Elementen eine Rolle spielt. Selbst im Video zu „Broken Rib“ hat sich nun ein Gag eingeschlichen. Denn so lange wir überlegt hatten, wie wir einen Schrei darstellen – mit geschlossenen Augen, nach vorne oder nach oben den Kopf gereckt –, so erwies sich unsere letztendliche Darstellung als goldrichtig. Denn kurz nachdem wir den Clip abgedreht hatten, sah ich einige Babyvögel, die auf Nahrung warteten und dafür ihre Schnäbel konstant in Richtung Himmel streckten. Das sah so süß aus und gleichzeitig musste ich lachen, weil es genauso aussah wie unser Schrei in dem „Broken Rib“-Video. Jetzt muss ich dabei immer an kleine, niedliche Tiere denken, die in der beständigen Hoffnung leben, stetig weiter gefüttert zu werden.

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Neben Humor geht es also auch ein bisschen um Hoffnung?

Oh ja, YOU HEARTBREAKER, YOU ist nicht nur cheeky, es ist auch ein großer Seufzer. Einer mit Freundlichkeit in der Stimme. Um so etwas auszusagen wie: „Ach, Welt, du wirst es wieder tun, oder? Du wirst mir bald wieder das Herz brechen – aber ich liebe dich trotzdem.“ Das meine ich wirklich überhaupt nicht verbittert oder zynisch. Und dass es nur Sinn ergibt, dass ich genau so offen bleiben sollte, hat mir ein Gespräch mit King Krule während der Albumaufnahmen wieder vor Augen geführt. Ihm gegenüber hatte ich mich bei einem Treffen einmal extrem ausgekotzt – ich weiß gar nicht mehr genau worüber, aber es muss sich ums Musikmachen gedreht haben – und nach einer Weile des Zuhörens antwortete er mir mit einem Selbstverständnis: „Ich verstehe dich gerade nicht. Du bist doch noch hier“ – und dazu machte er eine Geste mit der Hand hoch in der Luft, die mir zeigen sollte, dass ich noch auf einem hohen Niveau wäre. Dieses Selbstvertrauen in das Artist-Sein bewundere ich sehr. Und er hat ja auch recht: Ich bin immer noch Künstlerin. Ich habe nie aufgehört, eine Künstlerin zu sein. Das ist man einfach immer. Und dabei geht es letztlich nicht um Status oder so was, es geht ums Sein.

Wie gehst du damit um, wenn sich aber dein Künstlerinnendasein immer weiter verändert – auch durch äußere Umstände?

Das ist völlig okay für mich. Denn alles verändert sich die ganze Zeit. Es gäbe kein Leben, wenn es keine Veränderung gäbe. Wir können uns nun mal der ganz normalen Evolution nicht entziehen. Schließlich sind wir Teil von etwas, das sich ständig weiterentwickelt. Und auch Beziehungen verändern sich. Kein Tag ist wie der andere, wieso sollte es also beim Kreativen anders sein?

Beths Bio

Am 24. Dezember 1984 kommt Camille Berthomier, die sich als Künstlerin bald Jehnny Beth nennen wird, in Poitiers in Frankreich auf die Welt. Bereits als Achtjährige lernt sie das Klavierspielen und singt dabei beispielsweise Lieder von Chet Baker. Beth übernimmt außerdem als Zehnjährige die Titelrolle in Henrik Ibsens „Peer Gynt“. Im Jahr 2006 zieht es sie nach London und gründet dort gemeinsam mit Nicolas Congé – der bis jetzt nicht nur privat, sondern unter dem Pseudonym Johnny Hostile auch musikalisch ihr Partner ist – das Duo John & Jehn, aus dem später die Postpunk-Gruppe Savages hervorgeht. Nach zwei Savages-Platten bringt Jehnny Beth 2020 TO LOVE IS TO LIVE heraus – ihr erstes Solowerk. Weiterhin etabliert sie sich auch als Schauspielerin (u.a. mit „Anatomie eines Falls“ und mit „Sodium Babies“), macht Radio und die arte-Musiksendung „Echoes with Jehnny Beth“. Plus: Mit „C.A.L.M: Crimes Against Love Memories“ hat Beth eine mit Hostiles Fotos bebilderte Sammlung von erotischen Geschichten veröffentlicht. Weiterhin folgte 2021 der Release einer gemeinsamen LP mit Bobby Gillespie und am 29. August erscheint nun mit YOU HEARTBREAKER, YOU ihr zweites Album. Im Oktober folgen drei Konzerttermine in Deutschland.