Im Boomer-Himmel: 23 Dinge gelernt beim 80s-Fest mit Nena, Peter Schilling, Samantha Fox u.a.

Netzhemd, Neon-Shirt, Achselhaare … check! Linus Volkmann ist bereit für den großen 80s-Boomer-Showdown –  mit Sandra, Nik Kershaw, Johnny Logan, C.C. Catch, Nena und vielen mehr.

Eigentlich bin ich gern in der Unterschweinstiege. Hierbei handelt es sich um ein vornehmes Restaurant irgendwo in Südhessen. Besonders heiß bin ich jedes Mal, wenn die Großeltern meine Mutter und mich hier hin einladen, auf das Nachspeisenbuffet. Es sind die 80er Jahre, ich bin ein Kind und ich liebe Zucker und Popmusik. An diesem Tag nervt allerdings mein Onkel, er hat einen komischen Schnauzbart und keinen Draht zu mir. Trotzdem bemüht er eine Art Kommunikation. Warum ich denn heute Abend früh genug zu hause sein wolle, möchte er wissen. Ich sage vorpubertär und einsilbig: „Formel Eins“. Er erzählt daraufhin etwas von Rennwagen, ich höre nicht wirklich zu und rolle im Geiste mit den Augen. Denn „Formel Eins“ ist natürlich die einzig geile Musiksendung in diesem Jahrzehnt. Die will ich – Nachspeisen-Overload hin oder her – nicht verpassen. Der Onkel labert jetzt von Nicki Lauda. Ich nicke halbherzig.

Anfang 2025, viele Jahrzehnte später. Es ist noch sehr kalt, ich mache einen Spaziergang durchs Viertel. Beine vertreten ist wichtig, damit man im Home Office nicht durchdreht – oder zumindest nicht komplett. Ich sehe ein ziemlich hässlich designtes Plakat. Es wirbt mit einer 80s-Liveveranstaltung, moderiert von Peter Illmann, dem ersten Anchor-Dude jener „Formel Eins“-Sendung damals. Auftreten sollen dort Nena, Peter Schilling, C.C. Catch, Nik Kershaw, Gazebo, Cutting Crew, Billy Ocean, Johnny Logan und Samantha Fox.

„Was für Loser gehen bitte ernsthaft auf so eine Nostalgie-Nummer? Die durchgenudeltsten Hits der Achtziger endlich mal im Halbplayback – hey, und wieso eigentlich Mehrzahl bei ‚Hits‘, wenn es um das Werk der Band Cutting Crew geht?!“

So oder ähnlich dachte ich noch vor einem halben Jahr über diese Retro-ploitation. Doch was soll ich euch sagen? Je öfter ich an dem verdammten Plakat vorbei lief, desto interessierter wurde ich. Stellte mir vor, wie es wohl wäre, dort zumindest „ironisch“ aufzulaufen. Kurz vor knapp schaute ich dann endlich online: „Wenn es jetzt noch Tickets gibt“, verhandelte ich mit mir selbst, „gehe ich hin“. Und so kam es. Letztes Wochenende war ich vor Ort im Waldstadion in Frankfurt bei „Die 80er Live“ – und weil es so spektakulär war, wechsle ich jetzt wieder ins Präsenz.

23 Dinge, die ich bei „Die 80er Live“ gelernt habe

01 Forever Young

Wir sind gerade erst gekommen, da spricht mich ein Mann an – er ist gehüllt in seltsame Gewänder. Sie soll vermutlich lustig sein, dazu trägt er eher attraktivitätsbeschneidende Tattoos von seiner Lieblingsmannschaft Eintracht Frankfurt. „Jetzt schon Schlägerei, das ist aber früh!“, denke ich – höre dann aber, der Mann wundere sich bloß, dass ich und meine beiden Begleitungen eigentlich zu jung seien, um als Achtziger-Zeug:innen durchzugehen. Ich möchte ihn und selbst seine hässlichen Tattoos sofort ablecken. Jetzt schon bester Konzertbesuch des Jahres!

02 „Love me now and again“ (Gazebo)

Der freundliche Italiener mit dem One-Hit-Wonder-Status eröffnet schon um viertel vor fünf den Abend – doch sein „I Like Chopin“ verklingt jenseits meiner Anwesenheit. Sorry Bruder, aber wer allzu früh kommt, den bestraft das fußlahme Publikum.

03 „I won’t let the sun go down own me“ (Nik Kershaw)

Startet irgendwie eher übellaunig mit einer Art Free-Jazz-Stück in seinen Vier-Song-Auftritt. Das Publikum kann ihm das verzeihen, er selbst sich aber offenbar nicht, dass er seinen feinen Namen für diese Show hier hergegeben hat.

Nik Kershaw heute (Foto: Linus Volkmann)
Nik Kershaw einst (Foto: Linus Volkmann)

04 Unter Feuer

„Die 80er Liveshow“ macht auch in Pyro. Wenn man gerade nicht damit rechnet, werden immer mal wieder kleine Feuersäulen gen Himmel gebraten. Schreck, lass nach! Okay, für erfahrene Rammstein-Fans mögen diese Flämmchen sicher kaum mehr als ein mittelfeuriger Pups sein, aber „erfahrene Rammstein-Fans“ haben sicher ganz andere Probleme. (Allen voran natürlich ihre eigene Scheissigkeit)

05 Nuttenfüße

„Die frechen Bajuwaren“ von der Spider Murphy Gang sind zwar nicht in persona geladen, aber in der Pause heizt der DJ uns auch mit ihrem unkaputtbaren „Skandal im Sperrbezirk“ an. Wer wissen will, wie cringe sich anfühlt, muss nur mal in einer proto-geriatrischen Neon-Menge stehen, die von zigtausend Betriebsfeiern gestählt die Zeilen anstimmt „… und draußen vor der großen Stadt steh’n die Nutten sich die Füße platt!“ Zum Glück muss die vornehme Ex-Kanzlerin Angela Merkel das hier nicht erleben.

06 Überhaupt: Beinfreiheit

Richtig voll ist es nicht, immerhin handelt es sich hier um ein riesiges Stadion. Aber 25.000 Besucher:innen, das scheint mir auch nicht schlecht. Weniger Gedränge zahlt vielleicht nicht aufs Konto des Veranstalters ein, dafür aber auf unsere Laune.

07 Überhaupt: Neon

Die Achtziger in einem Wort beziehungsweise einem chemischen Element? Neon.

„Die 80er Live“ (Foto: Linus Volkmann)

08 „You make your own heaven and hell“ (C.C. Catch)

C.C. Catch möchte uns live offenbar zeigen, wie wenig retro sie eigentlich sei. Als Gegenwärtigskeitsbeweis sollen zwei junge, weiße Rapper fungieren, die den Songs nach dem ersten Refrain noch mit etwas Sprechgesang aufs nächste Level helfen. Natürlich lässt sie dieser DJ-Bobo-Move erst recht komplett abgehängt wirken, aber wir wollen sie nicht entmutigen und prosten ihr anerkennend zu.

Diese Haare! C.C. Catch und Sandra in der Vorbereitung in einer alten Bravo entdeckt. (Foto: Linus Volkmann)

09 Laser-Op

Wenn man sich erstmal dran gewöhnt hat, stören auch die bunten Laserstrahlen, die unvermittelt von der Bühne ins Publikum brennen, gar nicht mehr so. Am Ende wird man dadurch gar nicht blind, sondern bekommt en passant vielleicht sogar eine Hornverkrümmung weggelasert? Weiß man’s?!

10 Cutting Crew

Was heißt hier eigentlich im Vortext, diese Band britisch-kanadische Band hätte nur einen Hit? Stimmt gar nicht. Nach „Died in Your Arms“ rangen sich Cutting Crew bei der Suche nach einem Anschlusserfolg doch noch „I’ve Been In Love Before“ ab. Erfahrene Hörer:innen vom 80s-Radio könnten es kennen!

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11 Kisscam

Seit dem Coldplay-Incident ist das Thema Kiss-Cam von einem lustigen Gimmick zu einer veritablen Drohung geronnen. Überall vermutet man die Affären-Pärchen, die sich tunlichst weit voneinander wegstellen, sobald der bildschirmlastige Kubus über unseren Köpfen wieder auf seinen multimedialen Knutsch-Imperativ schaltet. Bloß nicht sich vom Internet das ganze verdammte Leben ruinieren zu lassen!

Gerade noch mal gut gegangen. Keine bösen Überraschungen bei der Kisscam. (Foto: Linus Volkmann)

12 Leute mit Armbanduhren

Geil, hier tragen Leute wirklich noch Armbanduhren. Halte sofort Ausschau, ob ich sogar jemand mit Monokel, Gehrock und Gamaschen erblicke. Leider nein. Aber gab es vermutlich trotzdem hier.

Wer hat an der Uhr gedreht? (Foto: Linus Volkmann)

13 Neu bei Madame Tussaud: Peter Illmann

Wenn ich heute erfahren würde, Peter Illmann wurde erpresst, bei dieser Veranstaltung aufzutreten, ich würde es sofort glauben. Dann aber erinnere ich mich, dass er schon „zu Lebzeiten“ kein besonders ekstatischer Moderator war. Diesen Wachsfiguren-Style hat er im Alter auf jeden Fall zu neuer Meisterschaft getrieben. Keine KI könnte je so leblos texten wie der Mann. Respekt!

14 „I wanna feel your body next to mine“ (Samantha Fox)

… hat es immer noch drauf und hinterlässt eigentlich den besten Eindruck an diesem Abend.

15 „Don’t cry, don’t say a word“ (Johnny Logan)

… sieht angenehm aus wie Howard Carpendale. Bei den zwei oder drei Songs, die er außer „Hold Me Now“ spielt, träume ich allerdings schon vom Foodcourt vor dem Stadion. Wann ist endlich wieder Pause?

16 Abenteuer Körperausscheidungen

Im Dixi-Klo halte ich das Becken neben dem klaffenden Abort für ein Waschbecken. Wie praktisch! Doch als ich meine Hände darin drehe und auf die Aktivierung des Wasserstrahls warte, geschieht nichts. Im Nachhinein muss ich mir sagen lassen, hierbei handele es sich um ein Urinal. Okay, macht ja auch viel mehr Sinn. Reinige mir daheim die Hände erstmal 15 Minuten mit Salzsäure. Soviel Zeit muss sein.

Das ominöse zweite Becken im Dixiklo. (Foto: Linus Volkmann)

17 Peter Schillings Logo

Das Logo von Peter Schilling sieht aus wie das eines Hi-Fi-Ladens, der bereits in der dritten Generation in Kaufbeuren oder Emden geführt wird.

… oder doch eher dem Playstation-Chic der 90er nachempfunden? (Foto: Linus Volkmann)

18 „ … doch der Countdown läuft“ (Peter Schilling)

Peter Schilling nuschelt sich verständnisverweigernd durch seine Strophen und ist – wie auch das Publikum – heilfroh, wenn er endlich wieder bei einem Refrain angelangt ist, denn dem nimmt ihm die sangesfreudige Masse ab.

19 „Die Wüste lebt“ (nochmal Peter Schilling)

Das Stück stammt wie alles heute tief aus den Achtzigern und stellte dereinst den Nachfolge-Song zu „Major Tom (völlig losgelöst)“ dar, dessen Status konnte er natürlich nicht mehr erreichen. Dennoch sollte man ihm eine gewisse prophetische Brisanz nicht absprechen. Beweis dafür sind Zeilen wie:

„Die Luft wird immer dünner / Die Hitze immer schlimmer / Jeder gibt dem andern schuld / Der Wissenschaftler rätselt noch / Und bittet um Geduld / Alarmsignal, die Sonne brennt / Heißer als man sie kennt“

Eine Stimme flüstert mir ins Ohr „erschreckend aktuell“. Es ist mein Begleiter Jens Friebe. Er meint damit aber wohl eher sein eigenes Stück mit genau diesem Titel, „Erschreckend aktuell“. Dass Peter Schilling die Klimakatastrophe vorausgesagt hat, lässt ihn dagegen sichtlich kalt, er ergänzt vielmehr noch ironischer: „Gänsehaut-Moment!“ So abgebrüht möchte ich auch mal sein und tue so, als würde ich ebenfalls nichts fühlen. Er scheint es mir abzunehmen. Glück gehabt!

Peter Schilling sagt es überdeutlich. (Foto: Linus Volkmann)

20 Kassensturz

Ich bin ja ein Fan davon, gerade auch bei Kulturthemen den ökonomischen Aspekt nicht immer so vornehm zu verschleiern. Daher hier mal die Rechnung des Abends. Ich habe die herausragende Graphikerin Kwittiseeds eingeladen zu dieser Prime-Time-Veranstaltung. Somit zahle ich also zwei Innenraum-Tickets à 50 Euro, einmal gebe ich eine Runde Getränke aus (Bier, Bier, Weißweinschorle), macht noch 21 Euro, später kommen 15 Euro für einen Whiskey-Cola dazu. Alter, was für Mondpreise. Meine Pommes hat Jens Friebe, von dem ich ebenfalls begleitet werde, gezahlt. Wenn ich das verrechne mit dem Honorar dieser Kolumne, habe ich bei dieser Show, Moment … genau minus 16 Euro verdient. Das ist für Kulturjournalismus heutzutage richtig viel Geld. Wenn das meine Eltern noch erleben könnten!

An der Seite des Kolumnisten die beiden Popkultur-Stars Jens Friebe und Kwittiseeds. (Foto: Linus Volkmann)

21 „Halt dich fest, das U-Boot taucht“ (Nena)

Nena … war da nicht mal was? Klar, man darf bei ihr nicht zu genau zurückdenken, denn sonst bekommt man so leichte Querdenker-Chills und erinnert sich am Ende noch an irgendeinen Schwurbler-Schulterschluss mit Xavier Naidoo und an ein abgebrochenes Konzert wegen nicht eingehaltener Corona-Regeln. Auch heute gibt sich Hauptact Nena gleich zu Beginn ihres Auftritts kämpferisch. Zwar habe um 23 Uhr Schicht zu sein, aber der Veranstalter solle ihr gefälligst mehr Zeit einräumen beziehungsweise sie würde sie sich nehmen! Immerhin habe er Backstage doch auch ein Foto mit ihr gewollt. Das Publikum freut die Ansage, doch was dann geschieht, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren …

22 „Fliegen Motten in das Licht genau wie Du und ich“ (nochmal Nena)

Weit vor jenem Curfew, also den 23 Uhr (plus x), hat Nena mit „99 Luftballons“ ihren allergrößten Hit verballert – und da auch sowohl „Leuchtturm“ und „Nur geträumt“ bereits durch sind, steuert das Publikum wie magnetisch zu den Ausgängen. Man ist halt nicht mehr sechzehn, schon lange auf den Beinen und/oder angetrunken. Auch wir erkennen in der Songauswahl ein Abfahrtssignal und verlassen das Stadion. Beim Rausgehen schickt Nena uns noch „Fragezeichen“ (und möglicherweise ein paar gemurmelte Flüche) hinterher.

23 Nach dem Event ist vor dem Event

Auf dem Multimedia-Würfel und den sonstigen Leinwänden wurde in den Umbaupausen vornehmlich Werbung für das nächste Jahr verbreitet. Im August 2026 geht es mit dieser Powerveranstaltung offensichtlich weiter – und es werden unter anderem Boy George, Spandau Ballet, Holly Johnson, Kim Wilde, ABC und Alphaville erwartet.

„Was für Loser gehen bitte ernsthaft zweimal zu so einer Nostalgie-Show?“ Doch nach etlichen Umläufen des Spots ahne ich bereits, dass ich ganz genau weiß, wer auch zum zweiten Mal auf diese Nummer hier reinfallen wird.
Also: See you next year, wenn ich nicht noch zur Vernunft kommen sollte – wovon aber nicht auszugehen ist.

Werden die verdammten Achtziger denn niemals ein Ende nehmen? (Foto: Linus Volkmann)