Kolumne

Ikkimel, $HOKI, 6euroneunzig: Pop Obszön ist am Kommen

Eine neue Obszönität strömt ohne Hose auf Playlists und den Dancefloor. Unser klemmy Indie-Brillo Linus Volkmann geht auf Streifzug durch den hell erleuchten Darkroom des hiesigen Pops.

Liebe angegeilte Schäfchen der Popgemeinde, wundert euch bitte nicht, wenn ich in dieser Kolumne mitunter formulieren werde wie ein segnungserprobter Gemeindepfarrer. Denn es soll hier um das extrovertierte female Körperbewusstsein im kontemporären Pop gehen, das aktuell bis hoch in die Charts spritzt. Wenn ich aber die darin verhandelte Freizügigkeit (beziehungsweise Obszönität) in Worten reproduzieren würde, würden die vernagelten KI-Programme, die im Internet alles taxieren, diesen Text mit ihren berüchtigten Bannflüchen belegen. Und Reichweite drosseln – kurz vor der befreienden Klimax? Furchtbare Vorstellung!

Während der sexuellen Revolution der Siebzigerjahre habe ich meinen BH verbrannt, sodass ich heute unter den schielenden Blicken von bekloppten Robotern eigentlich nur noch von „$3xu3ll€r“ Revolution schreiben dürfte? Oder am besten gleich nur in Pfirsich- und Auberginen-Emojis kommunizieren? Danke für wirklich gar nichts!

Es sammelt sich der Schweiß in meinen rosig samtenen Autorenhandflächen (nie körperlich gearbeitet), denn es ist natürlich vollkommen utopisch über diesen aktuellen Trend von Acts wie Ikkimel, $HOKI, Yung FSK18 oder 6euroneunzig zu schreiben, ohne dass es Körperflüssigkeiten regnet. Na, schauen wir mal.

Hot Indie? Mein Arsch!

Ich habe in den wilden Neunzigern und Nullerjahren gern verheulte Indie-Musik mit milchigen Schrammelgitarren gehört. Irgendwelche trübsinnigen Gymnasiasten-Dudes, die in Regenjacken und Cordhosen jammernd davon sangen, wie schlecht es ihnen ginge und sie keiner verstehen würde. Asexuelle, lustferne Musik – das schmiegte sich perfekt in meinen eigenen asexuellen, lustfernen Lifestyle. Gegen mich wirkte selbst noch Sheldon Cooper (#BigBangTheory) wie ein entgrenzter Player. Von männlichen Musikern, deren Texte schnaufenden Paarungswillen paraphrasierten, hielt ich ohnehin schon immer intuitiv Abstand. Die Gitarre als pulsierender Phallus, der Sänger als markige Hoden-Jukebox – das hat doch bereits bei den Rolling Stones, Guns’n’Roses und Oasis unfassbar genervt.

Schussbereiter BH (und Hintern)

Als normal verklemmter Pop-Nerd nahm ich natürlich female Acts, die exzessiv körperliche Lust proklamierten, differenzierter wahr. Hier ging es offensichtlich um Selbstermächtigung, es ging darum, rauszukommen aus der ewigen Objektrolle innerhalb des männlichen Pop-Minnegesangs. Richtig geheuer war mir allerdings trotzdem nicht, wenn zum Beispiel Madonna in diesem scheinbar schussbereiten Blechspitzen-BH von Jean Paul Gaultier sang:

„I hold the lock and you hold got the key“

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Und wenn Lucilectric in „Mädchen“, diesem sinnstiftenden Song der Girlie-Bewegung, folgende Beobachtung mit uns teilte, versteckte ich mich reflexhaft in der Garderobe:

„Was’n das für’n wundervoller Hintern / Der da nebenan am Tresen steht?“

Suppende One-Night-Stands? Meinetwegen – bitte nur ohne Yours Truly. Aber man konnte sich ja tatsächlich auch einfach wegdrehen. Lange Zeit habe ich so den Eros des Popbetriebs auf Snooze geschaltet gehabt. Wenn es irgendwo – in Text oder Videoclip – zu sehr unter die Gürtellinie ging, las ich eben in der Straßenverkehrsordnung oder machte mir ein Brot. Doch in den Zehnerjahren brachte eine sehr wichtige gesellschaftliche Entwicklung, „Body Positivity“ nämlich, ihre horny kleine Schwester mit auf die Party. Es handelte sich dabei um „Sex Positivity“ – und jene drehte noch mal völlig neu und enthemmt am Genitalienglücksrad.

Gönnen können

In Deutschland fand sich das Spektakel zum Beispiel durch Songs der Gruppe SXTN in den Charts wieder. Bei ihnen hieß es plötzlich „FTZN im Club“ – dagegen wirkte „Fuffis im Club“ vom einstigen Bürgerschreck Sido so antiquiert wie die traurige Bordellphantasie eh schon immer war. Das Album LEBEN AM LIMIT von SXTN erhielt 2017 Gold-Status und bereitete den Weg für einen hosenlosen Trend, der heute so reinknallt.

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Female Rapper agierten nun auch auf größeren Bühnen so vulgär und explizit, wie es Glied-Acts wie Frauenarzt, King Orgasmus One, Taktloss und unzählige andere male MCs immer schon durchgezogen hatten. Gute Sache, oder? Denn wenn dieser Umstand nicht Szene und Gleichberechtigung bereichert hat, dann soll es Frösche und „L.M.S.“ Tapes von Kool Savas regnen.

Als vornehmer Musikjourno, der sich aber auch progressiv gibt, fiel es mir mit dem ausgehenden letzten Jahrzehnt nun auch immer schwerer, mich diesem Hype zu entziehen. Über die feministische Polit-Rapperin Sookee entdeckte ich zum Beispiel Mariybu, deren fantastischer Style bis heute über alles erhaben ist – aber die, wenn man (nicht mal) genau hinhört, auch sehr stark für eine freie, weibliche Lust eintritt. Gegönnt!

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Die neuen Zwanzigerjahre und Eurotrash

Corona, Krieg und Klimawandel … dieses Jahrzehnt fühlt sich echt nur noch an wie eine Party, bei der längst das Putzlicht angegangen ist und man sich einfach sicher sein kann, ab jetzt wird’s richtig richtig bitter. Doch auch in fiesen Zeiten läuft Musik. Der Sound allerdings, den sich die neue Powerpettingmusik zum Untergang dabei übergeworfen hat, schleudert uns noch mal ein paar Absätze in diesem Text zurück.

Zeitzeug:innen der Neunzigerjahre erinnern sich vielleicht noch an das Genre „Eurotrash“. Eine kommerzmanipulierte Nachgeburt des ohnehin selbst schon bestürzenden Eurodance. Wem „Mister Vain“ noch zu elaboriert erschien, konnte sich an Gehirnzellenfressern wie der Augsburger Puppenkisten Geisterbahn „Eine Insel mit zwei Bergen“ laben. Markenzeichen für Eurotrash waren fragwürdige Bounce-Beats und hohe beats per minute, die in krassem Gegensatz zu dem IQ der Texte standen. Gern wurden bekannte Motive wie das Quietsche-Entchen aus der Sesamstraße oder Die Schlümpfe als Aufhänger benutzt.

Ein Act spielte mit halbsteifer Pin-Up-Ästhetik und Geschichtchen über Kondome, Fremdgehen oder opulente sekundäre Geschlechtsmerkmale. Die Rede ist von E-Rotic. Statt dass sie für ihre notgeilen Lieder Arbeitsstunden zugunsten gemeinnütziger Zwecke aufgebrummt bekamen, belohnte sie der japsende Sender VIVA mit atemlosen Airplay. Das wiederum führte zu Fame, Goldenen Schallplatten und diversen Top-Ten-Singles. „Max Don’t Have Sex With Your Ex“, „Willy Use A Billy“, „Fred Come To Bed“ oder auch „Fritz Love My T**s“ …

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Was früher noch eher klemmy Entertainment für Masturbationsultras darstellte, gilt heute dagegen als ziemlich angesagt. Speziell Ikkimel aus Berlin Tempelhof hat über Ironie viele Türen aufgeschlossen, durch die nun Substanzen verherrlichende Pro-Sex-Texte reinlaufen wie Wespen im Hochsommer. 2025 erschien endlich auch ihr erstes Album. Es trägt einen Titel, den ich hier nicht wiedergeben werde. Denkt ihn euch einfach! Obwohl streng genommen ist diese Kolumne ohnehin schon verloren, wenn nach expliziten Buzzwords gefiltert wird. Also gut, ihr Album heißt FOTZE, seid ihr jetzt zufrieden?! Die Höchstplatzierung war dabei Rang 8 in den deutschen Charts, Songs wie „Keta und Krawall“ wurden Hits und sind jetzt schon Marker für den Zeitgeist der aktuellen Epoche.

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Sex Positivity gone mad? Okay, ich komme auch

An diesem Trend kommt niemand, der*die eine Affinität zu Pop hegt, vorbei. Lassen wir es also einfach geschehen. Es ist nur zum unserem Besten. Denn diese überschäumende sexuelle Übertreibung stellt zum Beispiel auch einen amtlichen Dorn dar, der im Glied der globalen Bestrebungen steckt, Flinta*-Personen zu sanktionieren, zu verhüllen, mundtot oder unsichtbar zu machen. Pride month here we go. Außerdem, Pop ist Übertreibung – da, wo es so richtig durchknallt, sollte man auf jeden Fall genauer hinschauen. In diesem Sinne hier noch mal ein paar handwarme weitergehende Empfehlungen aus diesem grellen Hinterzimmer des Zeitgeists.

$HOKI

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Yung FSK 18 + Ghetto B.

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

6euroneunzig

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

VICKY

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

PS: Ach so, und E-Rotic – der versexte Eurotrash aus den Neunzigern – treten heute wieder auf. Wundert irgendwie gar nicht …

Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.

ME