Drangsal im Fokus: Der Phönix ist ein Herdentier
Eine Kunstfigur auf der Suche nach sich selbst – und was dabei noch zum Vorschein kam.
Jahrelang wollte Max Gruber seine Visionen auf Biegen und Brechen Wirklichkeit werden lassen – dann gelangte er an einen Scheidepunkt. Um seine Kunstfigur Drangsal zu retten, muss er sie ein Stück weit begraben. Die neue Platte kann als fatalistische Dramagroteske verstanden werden. Am Ende aber gerät allein ihre Entstehung zur Ode an die Musik.
Alle Jahre wieder konfrontiert uns das Leben mit Fragen, nach deren Beantwortung nichts bleiben kann wie es war. Weder kennen solche Wegscheiden schnurgerade Routen, noch erlauben sie das Verweilen. Vor drei Jahren stand Max Gruber an diesem Punkt: Beschreitet er die rechte Straßengabelung, wird er Drangsal hinter sich zurücklassen müssen. Nimmt er die linke Abzweigung, bleibt ihm nichts als die Aufspaltung seiner Kunstfigur. Was hat ihn dorthin geführt?
„Und so fleh ich am Ende der Nacht: Gib mir mein Lied zurück.“ („Ich hab von der Musik geträumt“)
Eine Zeitlang wollte es Indie-Darling Gruber wirklich wissen mit der Hitparade. Immer freimütiger hatte er seine Rockmusik über die Jahre mit Schlagerpathos und Popbombast versehen. Auf der Stilebene wich die menschenverneinende Düsternis der frühen Tage einer massenumschlingenden Flamboyanz. Von seinem alternativen Klanggerüst hatte er spätestens auf EXIT STRATEGY (2021) die meisten Sperren, Schranken, Spitzen abgebaut. Heute blickt er wie folgt auf diese Werkphase zurück: „Es ging um das Aalglatte und Artifizielle, um Flucht im Sinne von Verkleiden oder Verstecken, um faulen Zelluloid-Zauber.“ Gruber artikuliert blitzgescheite Worte. Manchmal ringt sein Wesen in rasenden Gegenwarten mit den ersten Impulsen, immer aber schöpft sein Intellekt aus der Gabe zur Reflexion der Vergangenheit. Er bezweifelt, dass der damalige Charts einstieg auf Rang sechs tatsächlich den bloßen Songs entsprang: „Ich habe einfach auf allen Kanälen zur richtigen Zeit die richtigen Signale gesendet. Das war eine ganz bewusste Entscheidung – als Person präsent zu sein.“ Doch die einsame Konstruktion der Lieder am Schreibtisch, das spätere Übereinanderstapeln und Zurechtschleifen der Spuren verlangten Gruber viel ab – sowohl von seinen Kraftreserven als auch von seiner Spielfreude. In ihm walzten hochfrequente Ablehnungsmechanismen seiner Selbst. Dann folgt auf die künstlerische Ermattung eine chronische Krankheit. Er erinnert sich: „Mir wurde schlecht bei dem Gedanken, noch mal zwei Jahre allein in meinem Zimmer Musik zu schaffen. Dieser Prozess hätte auch nichts Begeisterndes hervorgebracht. Mich machte das faul, ich wollte nicht mal aufstehen.“ Wie und ob es überhaupt weitergehen sollte mit Drangsal, wussten nach der Pandemie nur die Sterne. Es würde eine Pause geben, wenigstens das stand in Stein gemeißelt.
Ein kleines bisschen Leichtigkeit suchte er in zwei Bandprojekten von verstiegenem Reiz. Der Supergruppen-Poppunk der Benjamins und die Antifolk-Duette der Mausis riefen ihm ins Bewusstsein zurück, dass Musizieren eine lustvolle Angelegenheit samt unbeschwerter Augenblicke zu sein vermag. Er fand Erfüllung im Kollektiv. Irgendwann wusste Gruber: Sollte es wirklich weitergehen mit Drangsal, braucht er Hilfe. Fortwährend rückte das Kreuzungsschild näher heran: Aufhören oder Aufspalten. Bisher überfiel ihn Furcht beim Gedanken an Steuerungsverzicht – mit festem Griff hatte er die Zügel seit jeher in seine Fäuste gekrallt. Was aber, wenn er loslässt? Wenn er Kontrollzwänge und Perfektionsgier hinter sich begräbt? Kann es Drangsal geben ohne die große Geste des Ichs? Am 16. Juni 2022 schüttelt Gruber die Hand von Marvin Holley. Ein halbes Jahr später fragt er ihn bei einer zufälligen Begegnung aus einem spontanen Bauchgefühl heraus, ob sich Holley vorstellen könne, gemeinsam zu musizieren. Seine Antwort lautet „Ja“. Ein bis zwei Mal pro Woche grübelt man in Holleys Studio auf Gitarrensaiten und Pianoklaviatur Ideen voran. Den Musikern seiner Liveband hatte Gruber da bereits Lebewohl gesagt – allen bis auf Lukas Korn. Ihm schicken die beiden ihre Skizzen von Berlin nach Wuppertal. Es entstehen erste Liedgerüste im Ping Pong der Sprachmemos.
„Ein Schulterschluss, ein Bruderkuss / Mit dem Weitermachen machen wir Schluss.“ („Nation Of Resignation“)
Bald darauf wählt Gruber den linken Pfad und das Einergespann Drangsal verwandelt sich in eine Troika. „Ich habe in ihnen zwei Menschen gefunden, die meine Signale deuten können und nicht einfach blind dorthin gehen – sondern mir wiederum spannendere Wege aufzeigen. Je mehr wir zusammengearbeitet haben, desto vager und diffuser wurden meine Impulse. Es entstand immer mehr Platz zum Auffüllen“, sagt Gruber. Nach einer Zusammenkunft in Wuppertal fahren die drei auf einen zum Studio restaurierten Bauernhof an der polnischen Grenze. Im Gepäck tragen sie die Grundrisse der Stücke. Recht rasch dämmert ihnen, dass hier ein Album entstehen wird. „In der ersten Woche habe ich noch spürbare Angst ausgestrahlt, war sehr kontrollierend. Manchmal wählte ich Dinge vorschnell ab, die sich später als zuträglich und wunderschön entpuppt haben“, erinnert Gruber. Sieben Tage vergehen, bis Max Rieger als Produzent hinzustößt. Umso länger der Wind über die norddeutschen Felder zieht, umso weniger panisch pocht es in Gruber. Irgendwann konnte er sich gar im Schlaf verlieren, während Rieger, Korn und Holley ihre Werke verrichten. In zwei mal zwei Wochen wird aus den Entwürfen ein Gemälde. Letzte Pinselstriche im Funkhaus Berlin vollenden das Bild – es trägt den Titel AUS KEINER MEINER BRÜCKEN DIE IN ASCHE LIEGEN IST JE EIN PHÖNIX EMPORGESTIEGEN.
Die darauf modellierte progressive Rockmusik träumt von Abkehr. Ihre Jazz-Passagen entladen Verwirrung, ihre Blues-Linien driften in Resignation. „Ich versuche ständig, an den Nukleus des Unsteten in mir selbst zu gelangen – aber ich schaffe es einfach nicht. Die Unmöglichkeit einer wirklich nachhaltigen Selbstflucht macht mich mürbe“, sagt Gruber. Manche Ohren dürften diese 17 Stücke als fatalistisches Manifest verzeichnen. Einige Lieder werden von ruckartigen Erschütterungen in zwei Teile gespalten. Das Volumen, der Takt und die Dynamik ähneln mal galoppierenden Mustangpferden und mal einer grasenden Bisonherde am fernen Horizont. In allen Fällen aber greifen hörbare Geschöpfe aus Fleisch und Blut ineinander, das Maschinelle dient lediglich als Mittel zum Zweck. Die für Drangsal seit Anbeginn seiner Laufbahn so unendlich stilbildenden Synthesizer finden keinen Stecker in der Prärie Vorpommerns. Auf dem Gehöft erkundet man neben der konstitutiven Akustikgitarre und dem ebenso essenziellen Klavier: Cembalo und Violinen, Xylophon und Celli, Saxofon und Querflöten, Orgel und Clavinet. „Wir haben ganz schnell entschieden, dass wir so wenig wie möglich auf den Rechner schauen und ihn eigentlich nur Bandmaschine sein lassen wollen“, sagt Co-Produzent Lukas Korn. Neben den unverstärkten Spielgeräten dokumentieren die Mikrofone auch die Knarzer im Gebälk. Max Rieger ermutigt das Trio, die vermeintliche Imperfektion zum formgebenden Gestaltungsmittel zu erheben – das endgültige Kunstwerk als Abbild einer organischen Prozessfolge. Manchmal habe Holley gedacht: „Hier schnarrt was, da knarrt der Stuhl, ich will’s noch mal machen. Dann aber jemanden in der Regie zu wissen, der dieses Vertrauen und diese Vision teilt, war sehr schön.“
Auch wenn Gruber es vielleicht nicht direkt aussprechen möchte, spiegeln seine Verse verschiedenerlei Desillusion: der Verlust schöpferischer Selbstverständlichkeiten, die Naturgesetze unablässiger Veränderung, das Gefecht mit seiner Gesundheit. All das findet sich mindestens zwischen den spitzzungenfeinen Zeilen dieser Dramagroteske. Sie wird ihr Publikum fordern. Spaßeshalber versah man die Frage, woran man gerade tüftle, mit der Pointe: Am Drangsalschen Karriereruin. Viel wichtiger aber als es Rezeption je sein kann: Gruber hat sich zum zweiten Mal in den Grund verliebt, wofür er einst aus der Pfalz in die weite Welt hinauszog. Denkt er heute an das Album, entfaltet sich keine Finsternis, sondern Freude. Holley lotste ihn aus Sackgassen zurück, wenn er sich verfahren hatte. Korn wusste jeden Klang aus dem Kopf seines Sängers ins Aufnahmegerät zu verfrachten. Mit Worten zeichnet Gruber das Bild dreier Menschen, die sich rücklings fallen lassen und doch nicht umkippen. Dafür bedarf es sowohl Spannung als auch Vertrauen. Dann sagt er: „Marvin und Lukas haben mich gerettet. Früher habe ich Früchte geerntet, so vergoren sie teilweise gewesen sind. Irgendwann wollte ich das nicht mehr und musste mir Gedanken machen, was denn am Ende übrig bleibt – und das ist die Musik.“



