Alfred Hilsberg: Punkpapst für die Ewigkeit
Der Entdecker und Ziehvater des bundesdeutschen Musik-Undergrounds ist verstorben
Mit Alfred Hilsberg, Autor, Labelmacher, Antreiber, Talentfischer, Chaos-Unternehmer, ist eine der schillerndsten Gestalten der Independent-Musikszene der Bundesrepublik verstorben. Vom Hamburg aus spannte er seine Netze. Über fast fünf Jahrzehnte lang.
„Ich erinnere mich an einige surreale und unvergessliche Treffen, auch wunderbare Spesenquittungen (mit Sahnetörtchen und Rotkäppchen-Sekt aus dem Deutsche-Bahn-Speisewagen!) und viele denkwürdige Telefonate…“, schreibt der Münchner Verleger (ex Heyne Hardcore) und Musiker Markus Nägele in einem persönlichen Nachruf, das ihr gemeinsames Erinnerungs-Buchprojekt streift. Mit Hilsberg zusammen zu arbeiten erforderte Nerven aus Stahl oder großen Langmut. Am besten man hatte beides.
Für mich war Hilsberg am Anfang ein erwachsener Mann aus der Zeitung. Das war im März 1978, als er im Hamburger Musikmagazin „Sounds“ eine fünfseitige Geschichte mit dem Titel „Rodenkirchen Is Burning“ verfasst hatte. Er war damals 31, ich als unwissender Gelegenheits-Leser gerade mal 15.
„Lucy lupft das Netzhemdchen, um auf Zehenspitzen und mit spitzem Mund den Welthit „Yes Sir, I can Boogie“ zu intonieren. Lucy singt bei der Punk-Band T.V. Eyes aus Köln. Mit ihrer schrillen Persiflage auf Baccara handelt sie sich verdienten Beifall und eine Zugabe ein …“: So beginnt eine der ersten Vorort-Recherchen über den westdeutschen Punk-Underground. Die Stationen waren Rheinland, Hamburg, Berlin. Grundlagenforschung eines Kultur-Aktivisten und ex-Dokfilm-Dozenten an der Hamburger Kunsthochschule, der in verstrahlten LSD-Trips aus der VW-Ödnis seiner Geburtsstadt Wolfsburg entflohen war. Ein Meister aus dem Zonenrandgebiet.
Aus Hilsbergs Feldforschungen wurde die regelmäßige, einseitige Kolumne „Neuestes Deutschland“ mit Notizen aus der Provinz, wiederum im „Sounds“ für uns Kids ein Fenster in eine geheimnisvolle Musikszene. Ein zutiefst in den 1970ern sozialisierter (Hippie-)Wuselbruder wurde auf diese Weise zum Punkpapst der alten Bundesrepublik. Ein Titel, über den er milde hinwegsah. Seine Basis-journalistischen Erfahrungen brachten ihn unweigerlich mit einer ganzen Welle zumeist blutjunger Bands und Solisten zusammen, die keine Ahnung hatten, wie das sagenumwobene Musikbiz funktioniert.
Der erwachsende Hilsberg schuf Abhilfe, in dem er 1980 das Label ZickZack Records gründete. Erste Veröffentlichungen: Zwei 7-Inch-Singles der Band Geisterfahrer (mit dem verstorbenen Musikautor und „Ruff Trade“-Betreiber Michael Ruff) und „Computerstaat“ der zwischenzeitlichen Erfolgsband Abwärts. Sein Indoor-Festival „Geräusche für die Achtziger“ brachte wiederum als Pioniertat eine chaotische Szene auf eine Bühne. Gleichzeitig das erste Album bei ZickZack.
Das gleichermaßen enthusiastische wie chaotische Geschäftsgebähren von Hilsberg ist längst in einem Buch und zahlreichen Retro-Texten niedergelegt. Der Graz-Düsseldorfer Musiker Xao Seffcheque fasste es einmal in einem Interview zusammen: „Das beste Label der Welt mit der schlechtesten Zahlungsmoral der Welt“.
Nach dem Ende von „Sounds“ Anfang 1983 war der Hamburger Labelbetreiber Alfred Hilsberg ein regelmäßiger Kunde des Kölner Magazins „Spex“, bei dem ich mich Mitte der 1980er für eine Weile um das Anzeigen-„Geschäft“ kümmerte. Die Gespräche mit ihm waren keine schnöden Buchungen, sondern jeweils Grundlagenseminare im Indie-Geschäft. Sein sonorer Tonfall am Telefon klang anfangs so wie große, weite Showbiz-Welt. Dass man mit (heute legendären) Bands wie Palais Schaumburg, X-Mal Deutschland, Ede und die Zimmermänner oder auch die Einstürzenden Neubauten keine solide Mark machen konnte, sollte sich erst mittelfristig herausstellen.
Doch Hilsberg überstand auf seine Art alle Krisen und setzte 1992 mit dem Nachfolge-Label What‘s So Funny About (WSFA) noch einmal neu an. Als gestandener und gestählter Mittvierziger öffnete er einer neuen Generation die Pforten in die Musikwelt. Mit Blumfeld blieb er durch die Jahre verbunden, selbst als sich die Distelmeyer-Crew andere Partner gesucht hatte.
Bis hinein in die 2010er-Jahre blieb er am Ball, zuletzt traf man ihn immer seltener auf den einschlägigen Branchen-Meetings. Das Rock’n’Roll-Leben forderte seinen Tribut. Zuletzt war er gesundheitlich über Jahre hinweg angeschlagen. Nun steht der ewige Motor der deutschen Musikszene für immer still. Hilsberg verstarb mit 77 Jahren.



