Stadttauben & Streamingmillionen: Überleben in der Musikindustrie
Aida schaut melancholisch Stadttauben hinterher & fragt sich, ob Künstler:innen & Kreative ihnen nicht ähnlicher sind, als sie es sich eingestehen
Wusstet ihr das: Jede Stadttaube, die euch mit ihrem Gurren auf dem Balkon auf die Nerven geht, ist Nachkomme einer Brieftaube, die auf dem Weg nach Hause verloren ging. Seit ich vor ein paar Jahren aus einem Artikel in einem Berliner Stadtmagazin gelernt habe, schaue ich wesentlich versöhnlicher auf die Vögel, die uns regelmässig den Hof … sagen wir mal: düngen. Denn wollen wir nicht irgendwie alle nach Hause? Und haben den Weg verloren?
Haus- und Brieftauben wurden darauf gezüchtet, nicht scheu gegenüber Menschen zu sein. Im Gegenteil: Sie wollen da sein, wo auch Menschen sind, schrieb der Künstler Joseph Earp Anfang August im Guardian über Stadttauben. Und jetzt, jetzt gehen sie uns damit auf den Geist. Und je mehr wir sie versuchen auszurotten, desto mehr pflanzen sie sich fort, Überlebensinstinkt und so.
Von Stadttauben zur Kreativität: Ein Vergleich über Überlebensstrategien von Künstler:innen
„Wovon redet sie eigentlich“, denkt ihr vielleicht, und ja, ihr habt recht: Stadttauben und ihre tragische Geschichte haben erst einmal nicht viel mit Popkultur und Politik zu tun. Aber ich muss in letzter Zeit oft daran denken – an die Suche nach einem Weg nach Hause, aus der Misere, in der wir alle stecken, raus, auf Produktivität als Reaktion auf beschissene Umstände, auf die Suche nach Nähe und Trost, wenn uns eigentlich nur Ablehnung entgegenschlägt.
Vielleicht sind die von uns, die gerne selbst Kunst schaffen, in irgendeiner Form, ein bisschen wie Tauben. Es gibt keinen Weg mehr zurück in eine Medienwelt, in der man von Plattenverkäufen, von Büchern, vom Schreiben von Artikeln, oder davon, alle paar Jahre einen kleinen Film zu machen, allein leben kann. Jeder Versuch, dahin zurückzukommen, ist zum Scheitern verurteilt und trotzdem trapsen viele wie verlorene Tauben hinter diesem Ideal her. Und die Zahl an Kunst- und Kulturschaffenden explodiert, denn insbesondere die Produktion von Musik oder Filmen war nie einfacher als heute, der Zugang noch nie einer breiteren Masse möglich als heute.
Künstler:innen im digitalen Zeitalter
Und das ist prinzipiell erst einmal eine gute Sache, wenn wir den Einsatz von sogenannten KI-Tools mal kurz außer Acht lassen, die YouTube und Tiktok mit weirden Katzenhorrorstories und Musikplattformen mit Country-Porn-Songs überflutet. Aber von diesen absolut verstörenden Entwicklungen abgesehen: Mehr Leute betätigen sich kreativ, was im Zweifelsfall immer die Welt eher ein bisschen besser macht als schlechter. Aber das bedeutet auch: Es ist kaum noch möglich, auch nur annähernd einen Überblick über die endlose Flut von Content zu behalten. Und das führt im Zweifelsfall wohin? Das wir festhalten an dem, was war.
Ich war kürzlich auf einer Party, und es lief die ganze Zeit ziemlich tasty, gegenwärtige Musik – aber die Tanzfläche wollte einfach nicht voll werden. Erst als die nächste Person hinter dem DJ-Pult stand und einen altbekannten Kracher nach dem anderen abspulte, füllte sich die Tanzfläche. Aber die jüngsten Kracher in Question waren spätestens Mitte der 2010er Jahre erschienen, bevor sich die Algorithmen der Streamingplattformen immer weiter auf ihre Hörer:innen einstellten und individualisierten. Das Resultat jetzt? Es wird immer schwieriger einen Song zu finden, auf den sich alle, und ich meine wirklich alle, einigen können. Von den jüngsten Gästen der Party, die wahrscheinlich schon Gen Alpha zuzurechnen waren, bis hin zu den ältesten, die vielleicht sogar noch unter Baby Boomer fielen.
Content-Flut und die Suche nach Aufmerksamkeit
Klar, jedes Jahr gibt es ein paar Songs, die es schaffen, diese Aufmerksamkeitsschwelle zu durchbrechen. Chappell Roans „Good Luck Babe“ zum Beispiel, oder Doechiis „Anxiety“ dieses Jahr. Aber gefühlt werden es jedes Jahr weniger, wie ich ja schon vor ein paar Wochen geschrieben habe. Daneben aber gibt es natürlich Abertausende, die den ganz großen Wurf gar nicht schaffen. Oder schaffen wollen, denn nicht jeder will ja im Mainstream landen. Aber völlig untergehen in der Masse der Veröffentlichungen, das ist ja auch nicht das Ziel. Also werden alle auch zu Influencer:innen in eigener Sache – klar, denn wie sonst soll man heute noch Aufmerksamkeit bekommen? Nur: auch auf sozialen Medien wird es immer schwieriger, mit dem eigenen Content hervorzustechen. Und so füttern wir alle die Maschine immer weiter, getrieben von einer Art Überlebensinstinkt, wie er den von den meisten von uns so verstoßenen Tauben bekannt vorkommen dürfte.
Das Hamsterrad der Selbstvermarktung: Gibt es einen Ausweg?
Gibt es eine Lösung, um aus diesem Hamsterrad – oder eher: diesem Stadttaubennest – wieder rauszukommen? Ich weiß es doch auch nicht. Aber wenigstens bei einer Sache bin ich mir sicher: Da kommen wir nur gemeinsam durch. In den USA gibt es zum Beispiel die Musiker:innen-Gewerkschaft United Musicians and Allied Workers, die dafür eintritt, dass die Streamingplattformen nicht nur denen Geld auszahlen, die wirklich gehört werden – sondern auch eine zweite Auszahlungsform eingeführt wird, die Musiker:innen ein „Living Wage“, also ein Gehalt, von dem man Leben kann, garantiert. Das würde insbesondere Newcomer:innen und Künstler:innen aus der Arbeiter:innenklasse zugute kommen. Fünf Finger sind eine Faust, heißt es ja so schön. Wird Zeit, den Taubenschlag selbstverwaltet zurückzuerkämpfen.



