Kolumne

Paulas Reisepopwoche: Schrödingers „Cheers“

Paula Irmschler war in Amerika unterwegs. Das hat sie erlebt.

Liebe Deutsche,

Projektionen sind mein Ding! Ich mach sie nämlich richtig gern! Oh jaaa, gibt es etwas irgendwo reinzuprojizieren, da läuft mir das Wasser im Mund zusammen! Für einen Pop-Fan ist das zum Glück auch einfach, denn Zeug zum Reinprojizieren wird am laufenden Band produziert. Es gibt immer wieder neue Kulturprodukte, die so angelegt sind, dass wir uns damit allzu easy identifizieren können, dass Sehnsüchte geweckt werden, Zugehörigkeitsbedürfnisse entstehen oder befriedigt werden.

Für mich, genau wie für viele andere Menschen meiner Generation, lieferte das natürlich vor allem die US-amerikanische Kultur. Es wurde irgendwann mal festgelegt, dass es die jetzt eben „ist“ und wir haben gesagt: Yes, please. Von den Eltern und den Intellektuellen als oberflächlicher Müll immer wieder abgelehnt, war alles, was aus Amerika kam, wie wir die USA nannten, für uns höherwertig. Die Menschen, ihre Magazine, ihre Filme, Serien, Musik, Klamotten, das Land auf dem sie lebten, cool cool obercool. Wir wollten Stücke davon, in Puppenform, CD-Form, Taschenform, was weiß ich, alles halt.

Wir zogen bei ihnen ein. In ihre Sitcom-Wohnzimmer, ihre Straßen, ihre Büros, ihre Kneipen und Bars, ihre Restaurants. Wir lebten darin, fingen an, unsere Realität mit ihrer Show zu verwechseln, Sprache, Blicke, Sichtweisen … Ich kann bei manchen meiner Angewohnheiten und Charaktereigenschaften gar nicht sicher sagen, was ich bin und was US-amerikanische Figuren in mir gesät haben. Vielleicht ist das auch Wurst, irgendwo hat man‘s ja immer her.

Ich wusste immer, ich muss mal hin, schauen, ob das alles echt ist oder nur eine Pappkulisse, die sofort umfällt, wenn man sie antitscht. Natürlich war es immer umso absurder, weil ein riesengroßes Gewässer zwischen einem und dieser Welt bekannten fernen Welt lag. Das größte Hindernis war aber das unfassbare Ausmaß an Asche, was man wohl brauchte, um überhaupt nur hinzukommen. 1000 Euro und 1 Millionen Euro waren für mich immer ungefähr das Gleiche – und genau das kostete eine USA-Reise, umso unglaublicher war es dann als ich’s mir mal leisten konnte und plötzlich einen nigelnagelneuen Reisepass in den Händen hielt und es plötzlich zum Greifen nah war.

Im Juni war ich mit dem Zug also in diesem Land unterwegs, dessen Strahlkraft für mich schon lange nicht mehr so doll war – man wurde älter, lernte mehr kennen, wurde politisch, durchschaute Verkaufslügen, hatte Prinzipien und so Kram. Aber sich das einmal noch angucken, gerade jetzt, schauen, was geht, wer was wie versucht? Wie es so aussieht, ob es standhält. Wegen der Zeitverschiebung kommt die Kolumne erst jetzt, I am sorry.

Und ja, ich hab gesagt: Zug, weil ich mir das ungefähr so vorgestellt hab:

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Spoiler: So war es nicht! Aber auch nicht so schlimm.

Wenn man ankommt, in dieser Welt, tut sie so, als würde sie einen auch so gut kennen, wie man sie. Als hätte sie einen auch jahrzehntelang im Fernsehen verfolgt. Es ist wirklich wie im Song von Taylor Swift, den sie in eben jener Stadt von jeder Rikscha dudeln: „Welcome to New York, it’s been waiting for you.“ Hello how are you nice Make-up how can I help you honey babe have a nice day you‘re welcome thank you thank you you‘re welcome I love you. Mmmmh, lecker viel Projektionsmaterial für einen Ossi, der damit aufgewachsen ist, dass die Menschen sich größtenteils sagen, dass man sich fortmachen soll, und zwar fix. Das Ausmaß der Nettigkeiten variiert aber schon, je nachdem, in welchem Landesteil man ist, wie viele Touris es gibt, wie abhängig man voneinander ist, wie viel Stress man so ausgesetzt ist, nach Tageszeit, und manchmal fällt auch alles in sich zusammen.

Aber es stimmt schon, man bleibt halt nicht lang allein, wird an- und vollgequatscht und abgefragt, wenn man sich irgendwo nur zu lange hinsetzt. Einem aus der Ferne vorgeführt und zelebriert wurde das unter anderem durch „Cheers“. Ein Sehnsuchtsort wie aus dem Buche, beziehungsweise Serie.

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Da ich auch in Boston war und erfuhr, dass es dort eine Kneipe gibt, die Vorbild für die Serie war und immer noch existiert (inklusive Museum), musste ich hin. Während andere Kinder- und Jobwünsche entwickelten, entwickelte ich sehr jung den Wunsch nach einer Clique, mit der ich mich immer in der Kneipe (o.Ä.) treffen würde. Vorbilder waren natürlich „Cheers“, „Friends“, „How I Met Your Mother“ und so weiter. Es kommt immer mal jemand rein, den man entweder kennt, liebt oder ulkig findet. Aber es sind alle in der Nähe, alle kommen und können kommen, wir haben eine sogenannte Neighbourhood, wir wohnen nicht völlig verteilt in der Stadt, je nachdem wo wir uns gerade eine Bude leisten können, nein, we‘re all in this together.

Das Lustige: Ich stand dann vor der „Cheers“-Kneipe und kam nicht rein, es war gerade zu. Die Öffnungszeiten waren zu babyhaft. Aber es lief vor der Tür trotzdem nonstop die verheißungsvolle Trailermusik („Sometimes you wanna go / Where everybody knows your name / And they’re always glad you came“). Ich war also gefangen in der „Cheers“-Zwischenwelt, es war so eine Art Schrödingers „Cheers“. Alle kennen meinen Namen / Niemand kennt meinen Namen.

Ich ging zu einer anderen paar Blocks weiter, meine Füße taten weh. Ich lernte drei nette Männer kennen, die mir erzählten, dass diese Kneipe hier eigentlich so sei wie die aus der Serie „Cheers“ und man hier jeden kannte, Neigbourhood und so. Das Lustige jetzt: Untereinander kannten sie sich gar nicht, obwohl sie doch angeblich ständig hier waren. Ist also auch das wieder nur eine Erzählung? Na klar! Niemand knows your name, oder man vergisst ihn halt nach fünf Minuten.

Und dennoch: All die Popkultur-Assoziationen und Orte, sie zogen mich magisch an … Ally McBeals Büro in Boston – über Jungs nachdenken, der Brunnen in Chicago aus dem Intro von „Married With Children“ (es hieß natürlich „Eine schrecklich nette Familie“) – Hotdog essen, Bootfahren zwischen den Niagarafällen – der Heiratsantrag von Mr. Sheffield an seine „Nanny“, Motown-Liebe in Detroit und vorbeigehen bei „Mom’s Spaghetti“, das French Quarter in New Orleans, ach ja klar, kennt man aus „Interview mit einem Vampir“, in New York die Häuser von Carrie Bradshaw, das aus „Friends“, das von den Sheffields, die Met Steps, mir bekannt aus „Gossip Girl“, der Central Park und „Kevin – Allein in New York“ – und eh alles, Einfahrt in Atlanta, natürlich mit „Midnight Train to Georgia“ aus den Kopfhörern und dann viel Usher.

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Zum Glück war aber mehr als genug Zeit für die aktuelle und vor allem echte Welt. Ein Punkkonzert im Park, ein Gospel-Konzert in einem Museum, mehrere Juneteenth-Feierlichkeiten, Pride-Veranstaltungen, die Anti-ICE-Proteste, Arbeitskämpfe, Solidaritätsdemos, Mahnwachen gegen Kriege, antifaschistische Protestcamps, progressive Kunst, Performances, queere und antirassistische Kämpfe und Sichtbarkeiten an allen Ecken, FUCK TRUMP und und und … Während hierzulande in den vergangenen Monaten fast schon manifestiert wurde, dass die da drüben nichts machen, machen die da drüben ganz schön viel. Man sieht nur im Kino und in den Charts nichts davon. Man muss nicht hinfliegen, aber doch genauer hinsehen. Sabrina Carpenter und Benson Boone mögen mit aller Macht versuchen, den Projektionsschein aufrecht zu erhalten, aber darauf fällt doch keiner mehr rein …

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Oder vielleicht doch …

Ach ja, an meinem letzten Abend in Boston kam ich dann doch noch rein in die „Cheers“-Bar. Es war tatsächlich das einzige Mal auf meiner Reise, dass ich mit absolut niemandem ins Gespräch kam.

Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.

ME