11 total nerdige Musikempfehlungen, die euch die KI mal wieder verschwiegen hat
Diese Bands kennt ihr doch eh nicht! Leidenschaftliche Empfehlungsschreiben in Pop – von Linus Volkmann.
Die letzte Ausgabe dieser Kolumne hat mich im Vorfeld (und auch danach) ziemlich Nerven gekostet. Aber ich wollte sie unbedingt machen. Der Text stellt für mich einfach ein Anliegen dar – gerade in der aktuellen Gemenge- und Gefühlslage von globalem Pop.
Für diese Episode möchte ich euch (und mich) aber nun wieder in betont friedfertigere Fahrwasser lenken. Obwohl ich dann doch mit einem Diss starten möchte: Dieses Jahr begegnet einem der Hype um die angeblich so intelligente Künstliche Intelligenz großflächig auf allen Social-Plattformen. Selbst bei WhatsApp prangt jetzt prominent ein dummer Meta-KI-Button. Was soll man den eigentlich fragen? Was man Mutti in die nächste Nachricht schreiben soll? Dieses omnipräsente Roboter-Gehubere überall stellt für mich eines der zentralen Frusterlebnisse im Netz dar. Und da zähle ich ehrlich gesagt auch die längst etablierten Algorithmen dazu, die einen heute an neue Musik heranführen wollen. Auf eure Empfehlungen ist – von meiner Seite aus zumindest – gepfiffen. Da fehlt mir die Überraschung, die Geilness, der Zufall und vor allem auch der inhaltliche Aspekt von Musik. Nicht alles lässt sich über Beats per minute und sonstiger digitaler Parameter validieren. Okay, bevor ich uns gleich noch in einen Boomer-Rant über die Vorteile von „handgemachter Musik“ reinsteigere, setze ich endlich die Überschrift für diese Kolumne hier…
11 wirklich total nerdige Musikempfehlungen aus 2025, die euch die KI mal wieder verschwiegen hat
01 Molly Punch
Irgendwo in den Katakomben unter der Powerstadt Essen im sagenumwobenen Ruhrgebiet. Das Etablissement, in dem ich mich befinde, hat neben der Bar auch noch eine Bühne. Und was für eine! Mit viel Liebe und vor allem mit bemaltem Bauschaum gestaltet wohnt ihr eine ziemliche Geisterbahnanmutung inne. Ich bin eigentlich wegen einer Feier hier und habe keine Ahnung, wer das Trio sein soll, das plötzlich genau jene Bühne betritt. Mir fällt nur auf, dass der Schlagzeuger die positivste Ausstrahlung besitzt, die ich seit Poldi dem Drachen von „Hallo Spencer“ je wahrgenommen habe. Die beiden anderen wirken konzentriert und cool. Gemeinsam stellen sie ein übertrieben tightes Brett an hochmodernem Riot-Grrrl-Sound auf. „Tightes Brett“? Auweia, ich klinge ja schon wie das Visions Magazin. Aber dennoch dürfte es passen von der Beschreibung her. Bis heute bin ich schockverliebt. Im Juni sehe ich Molly Punch aus Köln (und dann in Köln) noch mal wieder. Freue mich schon sehr. Sie werden mir sagen, was zu tun ist.
Hier alles zu Molly Punch finden.

02 Millhope – TRUTH AND DARE
In meiner Begeisterung für den Himmelfahrts-Pop der ehemaligen Fortuna-Ehrenfeld-Keyboarderin Jenny Thiele bin ich auf diesen frisurigen Mann gestoßen. Er hat Jennys Album PLATZ produziert, ist aber selbst auch Musiker. Sein topaktuelles Album TRUTH AND DARE funktioniert instrumental und elektronisch. Thomas Mühlhoff aka Millhope gelingt es dabei, ohne jedes Wort eine ganz eigene Kenntlichkeit zu schaffen. Dieser Chillwave ist gleichermaßen sphärisch, hypnotisch wie euphorisch. Smarte Musik zum Wohlfühlen. Als wäre der Titelsong von Captain Future zu einer Platte der Jetztzeit gemorpht.
Hier alles zu Millhopes TRUTH AND DARE finden.

03 Paul Sies – MEIN SCHÖNER HALS
Apropos Jenny Thiele. Die war (und ist) auf Tour mit dem Berliner Glamourpop-Dandy Paul Sies. Sein lyrischer Furor gepaart mit sanft wehmütigem Pop ist mir aber auch schon an anderer Stelle aufgefallen. Songs über Koks und Verzweiflung, über Melancholie und Wahn. Wenn ich seinen Song „Arschgesicht mit Undercut“ höre, möchte ich am liebsten kommentieren: „Ich finde mich in diesem Stück wieder und es ist mir unangenehm.“ Angelehnt an eine Beschwerde, die man bezüglich Fotos früher mal bei Facebook einreichen konnte. Aber am Ende ist es gar nicht unangenehm, sondern aufwühlend. MEIN SCHÖNER HALS heißt die Platte dazu und es gibt auch ganz wunderbare Videos im Netz. Zum Beispiel dieses hier zu „Traurig schon viel zu lang“.
04 OK NEIN – LEUCHTEN
Urmel aus dem Ei, Emopunk aus der Mauerstadt Berlin. Natürlich denkt man an Turbostaat, wenn man hier einschaltet. Aber ich finde von dieser Gitarren-und-Verzweiflungs-Band geht auch noch so ein bisschen SozPäd- und Küfa-Swag aus. Also nicht bloß das Aufheulen in kantigem, ästhetisierten Schmerz, sondern das hier ist irgendwie eine Handreichung. Und wenn man in ihrem tonnenschweren Sound lange genug graben würde, käme man irgendwann vermutlich bei einer Hippiepunkparty in einer Gartenlaube raus. Schöne Vorstellung eigentlich.
Hier alles zu OK NEINs LEUCHTEN finden.
05 Der Gang 350 – ZU
Ich will ja nicht angeben, aber ich besitze etliche Kassetten von Frankfurts aufregendster Post-Wave-Band. Das liegt allerdings gar nicht so sehr an meinem popkulturellen Gespür, sondern daran, dass einer des Duos offensichtlich meine Adresse rausgefunden hat und mir seitdem MCs zuschickt. Als beflissener Musikjourno habe ich sogar mal reingehört – und bin jetzt Fan.
Eine ganz eigene Mischung aus düsteren EA80 und pulsierender Oktavbass-Magie. Existenzialismus für eine neue Generation interessanter Brillenträger:innen. Wobei die Exil-Dillenburger-Band selbst ohne Sehhilfe auskommt. Besser wird’s nicht mehr.
Hier alles zu Der Gang 350s ZU finden.

06 LOIK
Ein Podcast kann auch eine Lavalampe sein. Ich liebe das Selbstgespräch von Claudius Loik aus (einst) Greifswald. Sein Podcast heißt „Musik und mehr“ und der Protagonist archiviert sich und seine unzähligen DIY-Veröffentlichungen darin selbst. Jede Folge sitzt er stundenlang in einem Gartenhäuschen, trinkt ausladend Bier, raucht dazu und betrachtet unter dem Mikroskop wieder einen kleinen Teilabschnitt seines Schaffens. Eine oversharing Charakterstudie, nach der sich manch Psychologe alle Pfoten lecken würde. Mir ist Claudius dadurch auf eine Art ans Herz gewachsen wie früher besondere Figuren der „Lindenstraße“. Und da er sich selbst ja vornehmlich über die Musik erzählt, habe ich die natürlich auch kennengelernt und empfehle das Stück hier – mit dem trashig bis intensiven KI-Video. Wer einmal an Tocotronic genagt hat, wird sich bei ihm sicher gleich zuhause fühlen.
07 Ell – LANGWEILIG
Der Traum vom Fliegen vs. Die Realität des Hustlens … Ich kenne kaum einen Act, der so unfassbar viel Engagement für seine eigene Kunst verströmt. Neben Ell fühlt man sich immer wie der letzte Slacker. Hatte man sich gerade mal kurz hingelegt, haben die beiden schon wieder ein Reel oder ein aktivistisches Video aufgestellt – während sie parallel versuchen, sich schon wieder die nächste Tour zu buchen. Ich habe großen Respekt für all die Acts, die Kohle und Hype nicht nachgeschmissen bekommen und die dafür eben einfach selbst mehr aufdrehen. Aber natürlich muss es auch musikalisch klicken – und das tut es. Ell aus (mittlerweile) Chemnitz ziehen messerscharf die Kante zwischen niedlichem Pop und herausfordernder Agitation. Mit solchen Songs hätte man früher noch den BuViSoCo von Stefan Raab gewonnen. Positiv gemeint!
08 Mondo Sangue – DIAMANTIK
Wie ich halt einfach auch mal elegante Musik höre! Da staunt selbst Deine Mutter. Aber wie kann man Mondo Sangue aus Stuttgart auch nicht lieben? Ein Duo aus der dortigen Supernerd-Szene. Tief verwachsen im stylishem Schwabenpop und in vielen unterschiedlichen Zusammenhängen daheim. Hauptsache es geht um Leidenschaft und Musik. Ihre jüngste Platte DIAMANTIK ist Easy Listening von einem anderen (sehr vornehmen) Stern. Zu diesen Songs würde sogar ich Liebe machen, wenn ich nicht immer so beschäftigt wäre mit Schreiben. Ästhetik- und Sympathiewerte hier auf jeden Fall durch die Decke.
09 Low Life Rich Kids – „NNNDW“
Protest-Pop aus Österreich. Warum muss alles immer als neuer Mega-Trend gelabelt werden, warum kühlt der heiße Scheiß von heute doch wieder im Zeitraffer ab? Coco Brell, Mara Romei und Bernhard Eder greifen den Popmaschinerie-Struggle mit diesem Stück sehr unterhaltsam an. Ich persönlich liebe ja das Gelaber um den nächsten Mikro-Hype, aber dieses Stück dagegen gefällt mir trotzdem (oder gerade deshalb) so gut.
10 Bierbabes – „Bon Voyage Ibiza“
Ein Stück, das ich garantiert in meine Jahrescharts packen werde. Aber die Band (schon das vierte Duo in dieser Liste) scheint mir noch unbekannt genug. Nicht mehr lange, versteht sich – diese „verträumten Ballermannsounds“ werden ihr Ziel finden. Ihr aktuelles Stück „Bon Voyage Ibiza“ inklusive der Zeilen „Rentnermodus, bestes Leben / Aquajogging, Kreuzworträtsel“.
11 Hanne Haller – „Trag doch dein Bett in die Kneipe“
Apropos Bierbabes … hier noch ein Lied, das dir nun wirklich keine KI der Welt je vorschlagen würde. Diese armen Trottel! Es stammt aus dem Jahre 1994 und von der Schlagersängerin Hanne Haller. In einem Interview erzählte Meme-Guru Sveamaus von einer ihrer Lieblingskünstlerinnen und zwar von Margot Werner.
Dabei streifte Svea den Fakt, dass Haller für Werner einst auch mal verruchte Texte geschrieben habe. Was bemerkenswert sei, agierte Hanne Haller als Solokünstlerin doch ausnehmend bieder. Sie lebte zwar lesbische Beziehungen, doch textete für sich selbst mitunter Songs über Männer, die ihre Zeit lieber im Wirtshaus als bei der Ehefrau verbrachten. Als Sveamaus zur Illustration dieses Fakts den hier angeführten Songtitel nannte, wurde ich hellhörig. Was soll ich sagen? Seitdem höre ich ihn regelmäßig – und das Verrückte an dieser Aussage ist: Sie ist wirklich wahr.
Bitte verurteilt mich nicht, sondern habt vielleicht selbst ein bisschen Spaß hiermit …
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