Kolumne

Trio, Pulp, Sonic Youth, Nirvana & mehr: 10 Musikdoku-Empfehlungen, ganz ohne Kosten

Widerstand gegen Doomscrolling und Algorithmen: 10 von Linus Volkmann empfohlene Musikdokus, die es frei verfügbar im Netz gibt.

Im letzten Jahrzehnt unterhielt ich für drei Jahre oder so eine wöchentliche Radio-Kolumne, hieß „Der Popkommentar“. Ich erinnere mich noch, was damit für eine satanische Selbstverpflichtung einherging: Jede Woche musste ich montags interessante Aufreger im Popbetrieb ausmachen und einem Redakteur vorschlagen. Mittwochs wurden meine Zeilen zum jeweiligen Phänomen im Studio aufgenommen – und wenn die Kolumne am Donnerstag dann endlich erschien, war das Thema oft schon abgekühlt, an einem anderen Punkt angelangt oder vom nächsten Empörungsmarker bereits rechts überholt. In diesem wöchentlichen Loop fühlte ich mich oft echt lost.

Dieser Kolumne hier stehe ich dagegen freundschaftlich gegenüber. Sicherlich hat das auch damit zu tun, dass sich für mich das Klima beim Musikexpress deutlich von der toxischen Realität beim WDR unterscheidet. Aber auch inhaltlich ist für mich hier mehr drin, da ich nicht zwingend den Empörungen der letzten Woche hinterherhecheln muss. Smart. Denn in der Ära von Social Media ist doch kaum etwas älter als das große Aufreger-Posting von vor ein paar Tagen.

So erspare ich uns, in dieser Folge hier zum Beispiel auf den schon wieder versiegenden Hype zur eigenen AI-Actionfigur einzusteigen (oder auf den noch etwas munteren Trend, diesen Trend zu verhöhnen). Auch wenn ich durchaus echte Actionfiguren von mir besitze.

Erkennt ihr es an meinen Spinnenfingern? Das ist ein echtes Produkt aus den Grundstoffen der Welt: Pappe und Plastik. Die KI sieht nur noch meine Rücklichter. Hoffentlich bringe ich die gottverdammten Roboter damit aber nicht allzu sehr gegen mich auf.

Lieber ein nachhaltiges Thema ins Bild schieben. Und welches? Nun, als ich sah, dass diese Woche endlich die halbstündige Doku auf arte erscheint, bei der Lieblingsrapperin Finna mitmacht, lag auf der Hand, man müsste doch einfach mal geile Musik-Dokumentationen empfehlen – und zwar solche, die frei verfügbar sind. Also nicht immer auf die fragwürdigen, greedy Streamingdienste verweisen. Nö, hier zehn (plus eins) handverlesene Spitzendokus ganz ohne Zusatzkosten. Macht Pause vom Algorithmus, gönnt euch richtige Geschichten.

01. „Female Rage – Wut als Waffe?“ (2025 / Regina Rohde / 30 Minuten)

Okay, dann fangen wir auch gleich mit dem sogenannten aktuellen „Aufhänger“ an. Eine halbe Stunde, die fünf Porträts aneinanderheftet: Eine Berliner Graffiti-Crew (PMS Ultras), die ukrainische FEMEN-Aktivistin Inna Shevchenko, Polit-Influencerin Tara-Louise Wittwer, die deutsch-senegalesische bildende Künstlerin Joséphine Sagna und eben Finna, die sich hier selbst beschreibt als „fette queere translesbische Mutter“. Die Protagonistinnen sind sehr unterschiedlich gewählt, aber in der Gesamtheit der 30 Minuten schält sich dann doch etwas hinsichtlich des Behelfsbegriffs „Female Rage“ raus, das mehr ist als nur die Summe der einzelnen Interviews. Außerdem wer sich verlieben will (Stichwort Frühling), der muss unbedingt dranbleiben, bis zum guten Schluss Finna ins Bild charmed. Wenn sie nicht der nächste Konsens-Darling-Act in der hiesigen Queer-Popszene (und darüber hinaus) wird, fresse ich deinen Hut.

Könnt ihr hier in Gänze anschauen.

02. „Pulp: a Film About Life, Death & Supermarkets“ (2014 / Florian Habicht / 90 Minuten)

Pulp sind für mich die Britpop-Band, die trotz einer sehr langen Laufzeit, für immer umweht werden von einem gewissen Mangel. Natürlich nicht ästhetisch, sondern hinsichtlich ihres Outputs. Nach dem ikonischen THIS IS HARDCORE aus dem Jahr 1998 setzte statt des Höhenflugs umgehend ein langsames Hinabgleiten ein. Mist, man war doch gerade erst so richtig angezündet gewesen von der Big Styler Band um Jarvis Cocker. Diese Doku hier kann über die Pulp-Sehnsucht gut hinweghelfen. Man erlebt die Band in ihrem natürlichen Habitat – wobei damit eher Sheffield und der Alltag gemeint sind als die großen Bühnen.

Aktuell wurde mit MORE gerade erst wieder ein neues Pulp-Album – nach 24 Jahren – angekündigt. Auch auf dieses Ereignis (wittere allerdings bereits Enttäuschung) dürfte man sich mit „A Film About Life, Death and Supermarkets“ einstimmen können.

Könnt ihr hier in Gänze anschauen.

[Achtung, wenn ihr diesen Film sehen wollt, benötigt ihr einen Ausweis eurer jeweiligen Bibliothek. Damit steht euch das riesige Streamingportal www.filmfriend.de kostenlos zur Verfügung. Ganz große Empfehlung. Ich weiß, das klingt erstmal nach Arbeit, aber gönnt euch das. Thank me later. Netflix und Co. rücken hiermit sofort zwei Stufen weiter nach hinten.]

PS: Aber auch auf YouTube findet sich die Pulp-Doku, hier allerdings nur in der deutsch synchronisierten Fassung.

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03. „Avicii: True Stories“ (139 Minuten / Levan Tsikurishvili / 2017)

Der Filmemacher Levan Tsikurishvili begleitet in den Jahren 2011 bis 2016 die faszinierende wie giftige Karriere, die den Schweden Tim Bergling zu einem der gefragtesten Produzenten und DJs der Welt machen wird. Neben globaler Anerkennung wächst auch ein Magengeschwür. Avicii wird seinen Fame nicht überleben. Die sehr persönliche Doku legt offen, welch geringer Wert vor nur zehn Jahren noch auf das Thema Mental Health in der kommerziellen Popkultur gelegt wurde. Ob das heute anders ist? Nach diesem Film möchte man dies wirklich hoffen.

Könnt ihr hier in Gänze anschauen.

04. „1991: The Year That Punk Broke“ (1992 / Dave Markey / 95 Minuten)

Kurz bevor Ende September 1991 der Grunge-Urknalls NEVERMIND erschien, waren seine Verursacher Nirvana noch auf ferienfreizeitiger Festivalsommertour mit Sonic Youth. Diese Doku begleitet beide Bands. Sonic Youth sind damals noch der größere Act, während man Nirvana völlig aufgekratzt zum Beispiel backstage mit Essen werfen sieht. „1991: The Year That Punk Broke“ stellt eine faszinierende Postkarte aus den letzten unschuldigen Tagen des amerikanischen Alternative Rocks dar, bei der man als Zuschauer:in nie ausblenden kann, dass man weiß, was auf all die unbedarften Protagonist:innen in wenigen Monaten zukommen wird.

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05. „Ost-Punk: Too Much Future – Punk in der DDR“ (2007 / Carsten Fiebeler / Henryk Gericke / Michael Boehlke / 90 Minuten)

Keine Frage: Auch im Westen konnte man in den 70er- wie 80er-Jahren schmerzhaft anecken mit Lederjacke und Iro. Doch die Konsequenzen für Punks aus der ehemaligen DDR waren durchweg bedrohlicher. Für nicht wenige endete ihr musikalisches Tun im Gefängnis. Diese Doku zeichnet eine Szene nach, die wirklich dissident sein musste und nicht bloß so tun konnte. Die Biographien der Filmemacher sind selbst untrennbar mit der Geschichte verknüpft, das spiegelt sich dann auch darin wieder, wie nah die Protagonist:innen sie an sich heranlassen. Besonders brisant sicher die Story der heute bildenden Künstlerin Cornelia Schleime, die in der Band Zwitschermaschine mit dem später als Inoffiziellen Stasimitarbeiter enttarnten Sascha Anderson spielte. Wer noch tiefer einsteigen will nach der Doku: Regisseur Gericke kann man in einem ausführlichen Gespräch (über drei Stunden) bei dem Podcast „Und dann kam Punk“ erleben.

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06. „Trio – Drei Mann im Doppelbett“ (2009 / Hannes Rossacher / 60 Minuten)

Der Spielfilm mit Trio als Darsteller – „Drei gegen Drei“ – ist übrigens einer der trashigsten Werke der 80er beziehungsweise der Post-NDW. Wer den mal in einer vollgepinkelten Tauschkiste findet, sollte unbedingt zugreifen. Ästhetisch stabiler allerdings dieses einstündige Porträt der Band. Stefan Remmler, Kralle Krawinkel und Peter Behrends hatten sich längst entliebt, aber hier bekommen sie alle noch mal Redezeit, um ihre minimalistische Ausnahmeband zu erklären, die so viel mehr war als bloß „Da Da Da“. Einst wohnten, hausten, feierten die drei gemeinsam in einem Haus in Großenkneten – eine Gemeinde des Landkreis Oldenburg. Da hätte man damals gern mal einen Abend verbracht, wenn ihr mich fragt. In „Drei Mann in einem Doppelbett“ kommen prominente Wegbegleiter zu Wort aber auch Bürgermeister und Fußballtrainer von Großenkneten. Heute lebt von Trio nur noch Stefan Remmler, was die O-Töne seiner verstorbenen Kollegen hier nur noch bedeutsamer scheinen lässt.

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o7. „Bunch Of Kunst – A Film About Sleaford Mods“ (2017 / Christine Franz / 103 Minuten)

Christine Franz hat vor langen Jahren auch für das Musikmagazin Intro geschrieben (R.i.P.). Doch schon damals war sie vornehmlich für die Sendung „arte Tracks“ tätig. Ich meine mich zu erinnern (Vorsicht: gefühlte Fakten), dass sie als großer Fan von den Sleaford Mods nie Möglichkeiten fand, jene ausführlich genug in der arte-Sendung zu platzieren. Dennoch drehte sie weiter Material und bald entspann sich die Idee einer eigenen Dokumentation zu dem nerdigen Brit-Duo. Das Ergebnis stellt für mich tatsächlich eine der schönsten, intimsten, spannendsten Dokus dar. Die unaufgeregte Art der Band (abseits der giftigen Bühnenkaskaden von Sänger Jason Williamson) korreliert perfekt mit der unaufgeregten Erzählweise. Für mich erzeugt „Bunch Of Kunst“ die Form von Wahrhaftigkeit, die zumindest ich in Musikdokus immer suche.

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08. „PJ Harvey: A Dog Called Money“ (2019 / Seamus Murphy / 94 Minuten)

Musik nicht als Dienstleistung sondern als Inspiration verstehen. Dieses romantische Ideal gleicht PJ Harvey mit berührend dokumentierten Reisen ab. Sie führen sie nach Afghanistan, Washington und den Kosovo. Für ihr Album THE HOPE SIX DEMOLITION PROJECT sammelte sie Ideen und Geschichten an fernen Orten.

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Könnte kitschig rüberkommen, könnte Poverty-ploitation sein – ist es aber nicht. Was sicherlich auch den beeindruckenden Bildern von Filmemacher Seamus Murphy liegt.

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09. „Iron Maiden: Flight 666“ (2009 / Sam Dunn / 113 Minuten)

Dass Heavy-Metal-Musiker am Ende eines langen Tages vielleicht doch keine Säuglinge essen, man hat es ja irgendwie schon geahnt. Dass Iron-Maiden-Sänger Bruce Dickinson nach dem Konzert allerdings eine riesige Verkehrsmaschine seiner Band fliegt, die den Kampfnamen „Ed Force One“ trägt (nach dem Iron-Maiden-Maskottchen Eddie), scheint aber doch etwas dick aufgetragen. Doch diese Doku hier erzählt genau jene Geschichte. Ein hochspannender Einblick mit einem gewissen „Sendung mit der Maus“-Charme.

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10. „Die Hamburger Schule – Zwischen Politik und Pop“ (2024 / Natascha Geier / 60 Minuten)

Welch immense Wirkmacht eine (mit zweimal 30 Minuten sehr überschaubare) Doku besitzen kann, hat uns das vorherige Jahr bewiesen. Die legendäre Hamburger-Schule-Doku. Diverse filmische Eindrücke und Anekdoten einer musikalischen Bewegung der Neunziger setzen ein teilweise absurd infernalisches Fegefeuer der Eitelkeiten in Gang. Ein Flashmob der in der Sendung zu kurz Gekommenen rollt durch unzählige Timelines bis sogar Schulz und Böhmermann den hitzigen Backlash als eine Art Theaterstück inszenieren (nach Christian Ihle). Bei diversen misogynen Entgleisungen in dem gesamten „Diskurs“ kann einem Regisseurin Natascha Geier wirklich leidtun. Dennoch muss man ihr lassen: Ihr Hamburger Schule Beitrag made Musikdokus a threat again. Allein dafür Respekt. Hätte fast schon wieder Bock auf einen Rewatch. Wer noch?

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11. BONUS: „Die Liebe frisst das Leben – Tobias Gruben, seine Lieder und die Erde“ (92 Minuten / Oliver Schwabe / 2020)

Ich habe auf meiner Festplatte einen Text von der Godmother of Musikexpress.de gefunden. Für ein Spezial in der Printausgabe vor etlichen Jahren empfiehlt jene Hella Wittenberg die sehr tolle Doku über den verstorbenen Musiker Tobias Gruben. Na, dann Hella, sag uns doch mal, warum wir draufklicken sollten …

„Tobias Grubens Stücke, die er mit Bands wie Die Erde und Cyan Revue realisierte, haben auch 25 Jahre nach seinem Tod nicht an Dringlichkeit und Schönheit verloren – und genau das feiert die Doku. Isolation Berlin, Tom Schilling, Messer, Tellavision und Timm Völker tragen hier ihre eigenwilligen Versionen vor. Hinzu kommen Interviews: Rocko Schamoni berichtet zum Beispiel, dass Gruben so ‚hell‘ wirkte, aber was er machte, ‚nie hell‘ wurde. Was für eine Formulierung! Und dann wird auch noch die schwierige Vater-Sohn-Beziehung mithilfe von bisher unveröffentlichten Briefen derart einfühlsam aufgearbeitet, dass man nicht anders kann, als sich von diesem Werk komplett runtergezogen zu fühlen.“

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PS: Okay, doch noch mal Actionfiguren

Ich bin ja Fan des sogenannten Zirkelschluss. Also einen Text zum Schluss wieder an seinen Anfang führen. Das verströmt beim Lesenden bestenfalls das Gefühl, die Story wäre „rund“. Na, dann passt es doch, dass die eingangs erwähnte Rapperin Finna eine besonders schöne Action-Version ihrer selbst aufgestellt hat.

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Toll, oder? Aber jetzt müsst ihr langsam wirklich eure Dokus gucken …

Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.

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