„22 Bahnen“-Kritik: Caroline Wahls Roman als eindrucksvolle Verfilmung
Kann der Film seiner erfolgreichen Buchvorlage gerecht werden?
Braucht es eine Verfilmung eines deutschen Bestseller-Debütromans über das alltägliche und tragische Leben einer jungen Frau in der Kleinstadt? Die Antwort lautet Ja! Und das mit 102 Minuten puren Emotionen, die sich fast vollständig dem Kitsch entziehen können. Genau das schafft Regisseurin Mia Maariel Meyer („Die Saat“) mit der Verfilmung des Romans „22 Bahnen“ von Caroline Wahl.
Das Debüt der Autorin aus dem Jahr 2023 wurde im Handumdrehen zum Publikumsliebling und katapultierte sich ein Jahr später auf Platz 1 der „Spiegel“-Bestsellerliste. Dass aus so einem deutschen Megaerfolg später auch ein Kinofilm entstehen würde, war quasi so sicher wie das Amen in der Kirche. Das Ergebnis lässt sich nun ab dem 4. September auf den Kinoleinwänden Deutschlands bestaunen. Hier ist das Verb „bestaunen“ keinesfalls zufällig gewählt – „22 Bahnen“ ist ein Film, der gar nicht anders kann, als zum Staunen zu veranlassen. Was sich nicht von vielen deutschen Großproduktionen behaupten lässt.
Zwischen Alltag und Tragik: Worum geht es in „22 Bahnen“?
„22 Bahnen“ erzählt die Geschichte von Tilda (Luna Wedler), ihrer kleinen Schwester Ida (Zoë Baier) und deren alkoholkranker Mutter Andrea (Laura Tonke). Tilda lebt einen streng durchgetakteten Alltag: Neben ihrem Mathematikstudium arbeitet sie an der Kasse eines Supermarkts und kümmert sich um Ida, mit der sie regelmäßig ins örtliche Freibad geht und ihre 22 Bahnen zieht. 22 Bahnen, die sie nur für sich hat. 22 Bahnen Ruhe. Denn so viel Alltag auch in Tildas Leben steckt, ein Moment zum Durchschnaufen ist ihr in der Regel nur selten vergönnt. Nicht zuletzt liegt das an ihrer Mutter, die eben Alkoholikerin ist und ihr Leben, ohne es zu merken, ins Unermessliche beschwert. So war und ist es Tilda, die ihre Schwester großzieht.
Zwar leben die Drei ohne Vaterfigur zusammen in einer Wohnung. Aber wirklich anwesend sind die meiste Zeit nur Tilda und Ida. Andrea ist dabei eher Teil der Einrichtung als Teil des Lebens ihrer Töchter. Doch Tildas trotzdem so geordnetes Leben droht aus den Fugen zu geraten, als sie nicht nur eine Promotionsstelle in Berlin angeboten bekommt, sondern auch noch Viktor (Jannis Niewöhner) kennenlernt. Und das ausgerechnet an ihrem heiligen Ort der Ruhe – im Schwimmbad. Ab diesem Moment sieht sie sich mit ihrer Vergangenheit konfrontiert, während sie gleichzeitig Zukunftsentscheidungen treffen muss, bei denen sie ihre geliebte Schwester allein in der Kleinstadt zurücklassen würde.
Kann die Verfilmung dem Bestseller von Caroline Wahl gerecht werden?
Mia Maariel Meyer und Drehbuchautorin Elena Hell („Sisi“) schaffen mit „22 Bahnen“ etwas, wovon die meisten Buchliebhaber:innen nur träumen können. Nicht nur gelingt es ihnen, die Charaktere und Orte eins zu eins den Worten aus dem Buch nachzuempfinden. Auch das Gefühl, das sich über die gesamte Länge des Romans erstreckt, schwingt über die komplette Spieldauer der Verfilmung mit. Dabei spielen nicht nur die gut durchdachten Kameraeinstellungen, das authentische Szenenbild und die in ihrer Einfachheit besonderen Aufnahmen eine bedeutende Rolle.
Insbesondere Luna Wedler sorgt dafür, dass „22 Bahnen“ zu dem Film wird, der er ist. Vielen deutschen Filmen wird es zum Verhängnis, dass sie sich immer wieder derselben Schauspieler:innen bedienen, die dieselben Dialoge in denselben Settings herunterrattern. Die Schweizer Schauspielerin spielt die coole, geordnete und dennoch hin- und hergerissene Rolle der Tilda mit einer Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, dass selbst zunächst kitschig erscheinende Dialoge ihrer Klischees entledigt werden. Sowohl in Konversationen als auch in stillen, wortleeren Momenten mit ihrem Love-Interest Viktor schafft Wedler mit ihrem Spiel eine Stimmung, die durch die Kinoleinwand greifbar erscheint. In diesen Augenblicken ist es dann auch zweitrangig, dass Jannis Niewöhner einen vergleichsweise ausdruckslosen Auftritt hinlegt. Und trotzdem: Die Chemie zwischen Tilda und Viktor im Zusammenspiel der beiden Darsteller:innen ist unbestreitbar – und das auf solch eine unterschwellige Art, dass es organischer kaum zu spielen ist.
Schauspielerische Leistung: Luna Wedler überzeugt als Tilda
Doch nicht nur die schönen, freien und leichten Emotionen verkörpert Luna Wedler. Auch die immer wieder auftretenden Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter bringt sie mit einer Stärke hervor, dass man sich als Zuschauer:in innerhalb weniger Sekunden in Tildas Gefühle hineinversetzen kann – oder sogar dazu gezwungen wird. Dass hat Wedler allerdings mehr als einmal auch der Darbietung von Laura Tonke zu verdanken, die die Rolle der alkoholkranken Mutter mit einer eindrücklichen Klarheit und Ehrlichkeit spielt, sodass es nicht viele Szenen braucht, um die Ernsthaftigkeit der Erkrankung zu verstehen.
Und dann wäre da noch Tildas Beziehung zu ihrer kleinen Schwester Ida, die eigentlich den Kernpunkt der gesamten Story ausmacht. Auch hier überzeugt der Film von Mia Maariel Meyer, denn die Nähe der beiden Schwestern und die Dynamik, die sich daraus ergibt, wirken so echt und roh, dass man den beiden Schauspielerinnen ein tatsächliches Familienverhältnis abnehmen würde.
Soundtrack und Inszenierung: Wie die „22 Bahnen“-Verfilmung Emotionen verstärkt
Hier und da droht „22 Bahnen“ in die Kategorie der 08/15-deutschen Filme hineinzurutschen, was unter anderem den Gegebenheiten der Romanvorlage geschuldet ist. Denn auch diese konnte sich in ihrem Ursprung nie ganz frei von ein paar gefühlsduseligen und teilweise vorhersehbaren Momenten machen. Doch kurz bevor der Gedanke aufkeimen könnte, der Film sei wie jedes andere Drama aus deutscher Feder, sorgt die Regie von Mia Maariel Meyer – und vor allem auch der Soundtrack und das Sounddesign – für eine einzigartige Atmosphäre. Dascha Dauenhauer („Kein Tier. So wild“) verleiht den ohnehin schon eindrucksvollen Bildern mit ihrer Musikauswahl ein komplett eigenes neues Gefühl, das mehr als einmal Gänsehaut ermöglicht. Sei es mit eindrücklichen Rave-Tracks oder auch mit emotionsgeladenen Indie-Beiträgen – Dauenhauer schenkt den Bildern des Films nochmals eine eigene Note, die die Momente auf besondere Art und Weise einfängt.
Fazit: „22 Bahnen“ als gelungene Romanverfilmung für Buch- und Filmfans
Für Fans des Buches ist die Romanverfilmung ein voller Erfolg: Die Handlung orientiert sich detailgetreu am Buch, das Szenenbild ist so kalkuliert, dass es den Vorstellungen der Leser:innen gerecht werden kann, die schauspielerische Leistung von Luna Wedler macht den Charakter Tilda unfassbar greifbar und das Zusammenspiel mit ihren Mitspielenden rundet dieses Drama schnörkellos ab. Doch auch für alle, denen weder „22 Bahnen“ noch Caroline Wahl ein Begriff waren, bietet der Film großes Potenzial. Nicht zuletzt auch, weil er sich neben der Gegenwart und Zukunft Tildas mit ihrer Vergangenheit beschäftigt und in immer wieder auftretenden Rückblicken die Puzzleteile eines großen Geheimnisses zusammensetzt. Sicherlich könnte man dem Film auch vorwerfen, er sei wie jede andere deutsche Produktion, die es auf die große Leinwand schafft. Dass das letztendlich aber nicht der Wahrheit entspricht, lässt sich ab dem 4. September in Deutschlands Kinos ansehen.



